Jerusalem

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Sonntag, 20. September 2015

„Winterpferde“ von Philip Kerr

Pferde, zumal Wildpferde, sind neben ihrer offensichtlichen physischen Eigenschaft als hochentwickelte Säugetiere von unbestreitbarer natürlicher Schönheit und Eleganz gleichzeitig seit Alters her auch vitale Symbole für die Unschuld eines urtümlichen, ungeteilten Lebens, das sich selbst genügt und nichts anderes wünscht als im Einklang mit sich und seiner Umwelt zu existieren. Es scheint also kein Zufall, dass uns die prähistorischen Pferdebilder in den steinzeitlichen Höhlen Südfrankreichs, Italiens oder Nordspaniens intuitiv ansprechen und bis heute faszinieren. Philip Kerr, der Schöpfer der international erfolgreichen und vielfach ausgezeichneten Berlin-Noir-Reihe um den subversiven Privatdetektiv und Ex-Kriminalpolizisten Bernie Gunter im unfreiwilligen Einsatz für unterschiedliche Nazibehörden an verschiedenen authentischen Kriegsschauplätzen, hat bei Recherchen zum bislang letzten Band der Reihe in der Ukraine einige dankbare, historisch gut dokumentierte Motive gefunden, die er nun auf durchaus spekulative, aber reizvolle Art und Weise zu einem packenden Jugendbuch verarbeitet hat, das auf ebenso mitreißende wie plausible Art und Weise die ewig junge Frage nach sozialer Verantwortung und menschlichem Mitgefühl stellt.




Seine unwiderstehliche junge Protagonistin, das vierzehnjährige Waisenmädchen Kalyna (Kalinka genannt), ist dank des umsichtigen, uneigennützigen Handelns einer fremden Ukrainerin dem bevorstehenden Massaker der SS an der jüdischen Bevölkerung ihrer Heimatstadt Dnipropetrowsk entgangen, dem anschließend allerdings ihre gesamte unmittelbare Familie zum Opfer gefallen ist, und hat auf ihrer abenteuerlichen Flucht allein fast 350 Kilometer zu Fuß durch ihre von den Deutschen besetzte Heimat zurückgelegt. Dabei hat sie auf schmerzvolle Art und Weise gelernt, dass sie keinem Menschen trauen darf, so freundlich er sich ihr gegenüber auch verhalten mag. Im bitterkalten Winter des Jahres 1941/42, der mit dem unter schweren Verlusten erkämpften sowjetischen Sieg von Stalingrad eine geschichtsträchtige entscheidende Zäsur im Kriegsverlauf erleben sollte, erreicht das mutige Mädchen schließlich das Naturschutzgebiet Askania-Nowa in der Südukraine, wo es trotz der dauerhaften Quartiernahme einer SS-Einsatzgruppe in den herrschaftlichen Verwaltungsgebäuden des weitläufigen Areals bei dem in einer einsamen Hütte lebenden alten Tierwärter Max vorübergehend Schutz und Unterschlupf findet.

Er sah ein Mädchen von vierzehn oder fünfzehn Jahren. Sie war groß und kräftig, aber sehr dünn, hatte langes schmutzig braunes Haar und sah so ängstlich aus wie ein Kaninchen in der Falle. In einer solchen Nacht musste man sich über jeden Bewohner wundern, besonders über ein junges Mädchen, aber noch erstaunlicher war die Tatsache, dass es von zwei Przewalski-Pferden begleitet wurde. Sie standen links und rechts von ihr und schützten das Mädchen mit ihren dicken Körpern vor dem Nordostwind. […] Obwohl sie mit Schnee bedeckt waren, erkannte Max sofort den Leithengst Temüdschin und seine beste Stute Börte.

Die geschichtlich verbürgte, international bekannte Hauptattraktion des durch die Kriegsereignisse vernachlässigten Tierparks ist das von dem Gründer Askania-Nowas, dem deutschstämmigen Großgrundbesitzer Friedrich von Falz-Fein (1863-1920), ins Leben gerufene einzigartige Zuchtprojekt wild lebender Przewalski-Pferde, der einzigen bis heute existierenden originären Wildpferdeart, die erst 1878 von der westlichen Wissenschaft entdeckt wurde, als sie in ihrer zentralasiatischen Heimat bereits kurz vor der Ausrottung stand. Sämtliche lebende Bestände von Przewalski-Pferden in Zoos und Auswilderungsgebieten auf der ganzen Welt stammen heute direkt von Exemplaren aus dieser Zuchtlinie ab, ihre Physiognomie weist eine verblüffende Ähnlichkeit zu den prähistorischen Höhlenbildern von Lascaux oder Altamtira auf. Die lebensfeindliche Nazi-Ideologie jedoch betrachtete die im Vergleich zum domestizierten Hauspferd augenfällig kleineren und außerdem deutlich aggressiveren Przewalski-Pferde als regelrechte „Unterpferde“, wie es Kerr in gewohnt ausgefeilten Dialogen dem diabolischen SS-Offizier, Hauptmann Grenzmann, in den Mund legt: entbehrlicher, lebensunwerter Ausschuss der Evolution, der „zu Recht vom Aussterben bedroht ist“.

Przewalski-Pferde im Schnee/Foto: Wikimedia

Als angesichts der zunehmend unaufhaltsamen Gebietszugewinne sowjetischer Truppen ein baldiger Rückzug der SS-Einsatzgruppe von Askania-Nowa unmittelbar bevorsteht, macht Hauptmann Grenzmann dem gutherzigen, inmitten der ostensiven Brutalität und sittlichen Verrohung der Besatzungssoldaten stets besonnen agierenden Max eine entsetzliche Mitteilung: aus vorauseilendem, bürokratischem Diensteifer hat er seine vorgesetzte Stelle in Berlin nicht nur um detaillierte Anweisungen gebeten, wie vor dem unvermeidlichen Abmarsch mit den „primitiven Urpferden“ zu verfahren sei, sondern ist auch festen Willens, die tatsächlich von seiner Behörde erteilten absurden Direktiven fern jeder Überprüfbarkeit durch die Berliner Führung lückenlos umzusetzen.

Habe ich das nicht schon erwähnt? Die Przewalskis sind jetzt geächtet, eine verbotene Rasse, und müssen als solche vernichtet werden.“
Das können Sie doch nicht ernst meinen!“
Es tut mir leid, Max, aber das liegt nicht in meiner Hand. Das SS- Hauptquartier trifft die Entscheidungen in allen Rassenangelegenheiten. Und im Fall der Przewalski-Pferde hat Berlin mir befohlen, die Arbeit zu vollenden, die die Natur bereits begonnen hat, Max. Nämlich eine biologisch ungeeignete Rasse aus der Tierpopulation der Großdeutschen Reiches zu entfernen, um die Linie von vernünftig domestizierten Pferden […] davor zu schützen, von euren herumstreunenden Höhlenponys verunreinigt zu werden. Das gehört alles zu unserem Plan der völligen Zerstörung ukrainischer und asiatischer Kultur, damit euer Volk vernünftig germanisiert werden kann. […] Ein paar Exemplare müssen nach Berlin gebracht werden, […] damit Reichsmarschall Göring sie auf seinem Anwesen Carinhall jagen kann. Er ist selbst ein großer Jäger, weißt du? Doch der Rest der Przewalski-Pferde wird ohne weitere Verzögerung erschossen.“

Am Beispiel der vollkommen sinnlosen, technokratischen Ermordung einer ganzen Herde prächtiger Przewalski-Pferde durch vom Beiwagen eines Motorrads abgefeuerte Maschinengewehrsalven gelingt es Philip Kerr auf ebenso pointierte wie glaubhafte Art und Weise, selbst noch dem oberflächlichsten, vielleicht nur an einer spannenden Romanhandlung interessierten jungen Leser unmissverständlich vor Augen zu führen, als wie verlogen die hinlänglich bekannte, fast schon sprichwörtliche Eigendarstellung der gesamten deutschen Tätergeneration tatsächlich bewertet werden muss: man habe während der Zeit der Selbstunterwerfung unter ein unzweifelhaft verbrecherisches Regime niemals eine noch so geringe Wahlmöglichkeit gehabt, sondern stets nur seine unentrinnbare Pflicht als Soldat oder Staatsbürger verrichtet und unverhandelbaren Befehlen gehorcht, so als gäbe es keine allgemeinen moralischen Maßstäbe, die jeder Mensch seinem eigenen Handeln zu Grunde legt, und als habe es diese auch niemals gegeben. Dieses von den Nationalsozialisten bewusst hervorgerufene moralische Vakuum in der deutschen Gesellschaft ist möglicherweise eines der am stärksten nachwirkenden Kennzeichen ihrer lebensfeindlichen Ideologie, gerade weil es jeder Täter, Mitläufer oder Dulder des Regimes nach der Befreiung am leichtesten hätte aufgeben können.

Winternebel, -22° C/Foto: Vadym Serpak

Doch gleichzeitig führt uns Philip Kerr im weiteren Verlauf der Handlung wie nebenbei zahlreiche geglückte Beispiele unabhängigen und selbstbestimmten Handelns im Sinne der Humanität vor Augen: so etwa in Gestalt der selbstlosen Retterin in Dnipropetrowsk, die die verängstigte Kalinka aus der Marschkolonne heraus in ihren Hauseingang zieht, um sie vor der SS zu verstecken, dem mitfühlenden Gutsverwalter Max, der sein eigenes Leben riskiert, um das Mädchen und die seltenen Pferde vor dem sicheren Tod zu retten oder einem erfahrenen deutschen Nachrichtenoffizier, der am Ende des Buches zur großen Erleichterung des Lesers einem ausdrücklichen Befehl bewusst zuwiderhandelt und so eine entscheidende Wende herbeiführt.

Kalinka schob ihre Hände in die Taschen ihres schwarzen Fellmantels und tastete nach dem Kompass, dem Geld, dem Brot und dem Käse, die er so fürsorglich hineingesteckt hatte. Die Freundlichkeit des alten Mannes ließ einen Kloß in ihrem Hals wachsen. Sie hätte gern geweint, aber sie wusste, dass sie es nicht konnte. […] Sie hatte gelernt, dass man nicht weglaufen konnte, wenn man weinte, und dass man sich auch nicht in einem Schrank verstecken konnte, ohne gehört zu werden. Wenn man niemandem vertrauen konnte, musste man sich auf sich selbst verlassen können. Sie hatte gedacht, irgendwann würde sie weinen können, doch seit ihrer Flucht war das nicht passiert. Mittlerweile glaubte sie, dass sie vielleicht niemals mehr würde weinen können, dass etwas Menschliches zusammen mit dem Rest ihrer Familie gestorben war.

Kalinka flieht ganz auf sich allein gestellt mit den beiden als unzähmbar geltenden verletzten Przewalski-Pferden Temüdschin und Börte, deren Vertrauen sie mit ihrer sensiblen, einfühlsamen Art dauerhaft gewonnen hat, sowie begleitet von Max' treuem Wolfshund: eine erstaunlich wehrhafte, eng verschworene, geradezu mythische Reise- und Schicksalsgemeinschaft, die da in Wald und Steppe hinauszieht – wie aus einem Märchen der Gebrüder Grimm. In Hauptmann Grenzmann jedoch haben sie einen unerbittlichen, fanatischen Verfolger gefunden, der trotz seiner musischen Interessen und einer zurückliegenden Karriere als olympischer Reiter nichts unversucht lassen wird, den unsinnigen, von ihm selbst heraufbeschworenen Befehl umzusetzen, mit unverhältnismäßigem militärischen Aufwand drei unschuldige Lebewesen zu töten, die sich nichts anderes wünschen, als selbstbestimmt in Freiheit und Frieden zu leben. In einer fesselnden Verfolgungsjagd mit zahlreichen überraschenden Wendungen gelingt es dem mutigen Mädchen schließlich hinter die befreiten Frontlinien zu gelangen. Hier allerdings muss sie sich unverhofft ganz neuen ungeahnten Herausforderungen stellen.

Philip Kerr/Foto: Ed Lederman

In „Winterpferde“, dem ersten nicht unter seinem Pseudonym P.B. Kerr veröffentlichten Jugendbuch, kann Philip Kerr sein Faible für Geschichte und Geschichten des Zweiten Weltkriegs sowie sein außergewöhnliches Talent für reflektierte, spannende Unterhaltungsliteratur erstmals in vollem Maße auch für junge Leser entfalten. Dabei bewegt er sich wie in seinen Kriminalromanen stets unmittelbar entlang belegbarer Fakten sowie im engen Rahmen historischer Wahrscheinlichkeit. Das Bild der seltenen Przewalski-Pferde als denkbar unschuldigste Opfer des nationalsozialistischen Zerstörungswahns ist ein genialer, ausgesprochen tragfähiger Schachzug. Ähnlich wie in seinen unnachahmlichen Bernie-Gunter-Romanen enthält sich der Autor dabei jeglicher vereinfachender Sichtweise oder kollektiver Schuldzuweisung: so erweist sich im Verlauf der Handlung ausgerechnet eine scheinbar hilfreiche ukrainische Bäuerin als eine der grausamsten Gegnerinnen Kalinkas, während ein deutscher Offizier als unverhoffter Retter in letzter Not fungiert. Der Mensch, so wie Philip Kerr ihn beschreibt, ist niemals eindimensional, und die Taten, zu denen er fähig ist, sind im Positiven wie im Negativen kaum voraussehbar. In seinem ebenso engagierten wie ausgewogenen literarischen Plädoyer für die Kraft und Schönheit des Lebens zeigt der ausgebildete Jurist, dass Mitgefühl, Liebe und Menschlichkeit damals wie heute ohne jede Alternative sind – doch die Entscheidung darüber liegt ganz bei uns.

„Winterpferde“ von Philip Kerr, aus dem Englischen von Christiane Steen, erschienen bei Rowohlt Rotfuchs, 287 Seiten, € 16,99

Donnerstag, 3. September 2015

„… in einem anderen Lande – Geschichte, Leben und Lebenswege von Juden im Rheinland“ von Matthias Bertram

In einem Lied der österreichischen Folk-Rock-Band STS beschreibt das lyrische Ich in suggestiven Versen eine kleine Stadt, die deutlich sichtbar für jeden langjährigen Bewohner einen großen Teil ihrer vertrauten Einwohnerschaft verloren hat, wodurch sich das Stadtbild innerhalb kürzester Zeit merklich verändert hat: Spielsachen liegen verwaist im Gras, der Nachbar sitzt nicht im Café wie sonst immer, die Schneiderwerkstatt liegt verlassen da und auch in der Wohnung vom „alten Doktor“ wohnt jetzt jemand anders – „Wo sind all die Menschen hin?“, fragt der Refrain, um vom schrecklichen „wissenden“ Echo geradezu niedergebrüllt zu werden, welches das Ungesehene mit quälender Deutlichkeit beim Namen nennt.

Wenn wir das kollektive Gedenken an die Schoah auf mechanisch-gedankenlose Art und Weise mit geographisch und begriffsmäßig weit entfernten Orten wie Auschwitz verknüpfen, drohen wir zu vergessen, dass die dort verübten Verbrechen an Menschen begangen wurden, die hier lebten, mitten unter uns, die ihren Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunden und Bekannten tagtäglich ein vertrauter, wenn nicht gar kostbarer Anblick waren. Es ist daher immer ein lohnender Beitrag zum Verständnis der monströsen kulturellen Zäsur von 1933, wenn sich heute private oder öffentliche Geldgeber finden, die wenig verkaufsträchtig scheinende Buchveröffentlichungen finanzieren, welche jüdisches Leben im scheinbar unbedeutenden Kontext des Provinziellen darzustellen versuchen.



Wenn man solch unscheinbaren Spuren jüdischen Lebens in ihrem eigentlichen geographischen Zusammenhang nachgeht, holt man damit das Geschehene zurück in seinen eigentlichen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontext und befreit es nachhaltig vom abstrakten historischen Verständnis des Völkermords. Der in seinem Stammberuf erfolgreiche Ingenieur und leidenschaftliche Heimatforscher Matthias Bertram, geboren 1950 in Dernau an der Ahr, hat nach jahrelanger aufwendiger persönlicher Recherchearbeit und mit freundlicher Unterstützung des Landschaftsverbands Rheinland nun eine nahezu lückenlose Darstellung jüdischen Lebens in seiner unmittelbaren Heimatregion vorgelegt.

In seiner annerkennenswerten, an historischen schriftlichen und mündlichen Zeitzeugen-Quellen reichen Fleißarbeit konzentriert sich der Autor auf die im Zentrum des örtlichen Weinanbaus gelegene eng umrissene Region der kleinen Ortschaften Dernau, Ahrweiler, Siegburg und Weilerswist von den ersten urkundlichen Nennungen im 13. Jahrhundert bis zum faktischen Ende der Statistiken in den 1950er Jahren, als selbst die wenigen jüdischen Überlebenden ihre jahrhundertelange Heimat endgültig verließen. Die sich im Verlauf der Jahrhunderte stetig verbessernde Quellenlage gibt dabei die ebenso aufschlussreiche wie dankbare inhaltliche Konzentration auf die Zeit von der Französischen Revolution und der anschließenden Besetzung des Rheinlands durch Frankreich bis zum Ende des Nationalsozialismus vor.

Pogrome in den großen Städten bewogen jüdische Familien im Spätmittelalter sich im ländlichen Rheinland anzusiedeln, wo sie meist in dem einzigen ihnen offiziell erlaubten Beruf des Geldwechslers arbeiteten. Ein Dekret Napoleons von 1808 verlangte schließlich auch für Juden die Führung vererblicher Familiennamen, so dass rückwirkend seit diesem Datum dezidiert auch die Erforschung familiärer Spuren jüdischen Lebens möglich ist. Dieser Aufgabe widmet sich Matthias Bertram in seinem Buch mit geradezu rührender Hingabe – so findet sich nicht nur der Text jedes einzelnen Grabsteins auf dem erhalten gebliebenen jüdischen Friedhof von Dernau liebevoll transkribiert und analysiert, sondern nahezu jedes öffentliche oder private Dokument, dessen der Autor im Verlaufe seiner internationalen Recherchen bei bekannten Nachkommen von jüdischen Familien aus der Region in Israel, USA, Kanada, Venezuela und vielen anderen Ländern habhaft werden konnte.

Jüdischer Friedhof Ahrweiler/Foto: G. Freihalter

Zwar ist seine Arbeit nicht frei von Druck- und Grammatikfehlern oder Floskeln wie „jüdische Mitbürger“, dennoch ist der praktische Informationswert seines Buches beträchtlich. Er zeichnet darin ein Bild von einer homogenen, im wesentlichen auf Landwirtschaft, Kleinhandel und Weinbau ausgerichteten ländlichen Gemeinschaft, innerhalb der jüdische Familien schon vor der offiziellen Emanzipation einen natürlichen und organischen Anteil einnehmen durften und als geachtete Mitglieder des sozialen und kulturellen Lebens bestens integriert gewesen zu sein scheinen. So liefert der Autor besonders für den in der historischen Rückschau nur allzu kurzen Zeitraum bis zum Erstarken des deutschen Nationalismus und institutionellen Antisemitismus viele überraschende und erfreuliche Beispiele, wie Christen in einem engen sozialen Umfeld ihre jüdischen Freunde, Nachbarn und Geschäftspartner gegen böswillige Verleumdungen und falsche Anklagen verteidigt haben.

In den Ortschaften Dernau und Ahrweiler konnten die Nationalsozialisten bei den beiden Reichstagswahlen von 1932 nur deutlich weniger als 5% der Stimmen erringen. Vor diesem Hintergrund werden die Fragen nach dem „Danach“ nur umso drängender. Diesen Fragen den notwendigen Raum zu geben, ist nur das geringste Verdienst Matthias Bertrams Arbeit. Mit seinem informativen Buch ist es ihm gelungen, jenen jüdischen Familien, die seit mindestens zweihundert Jahren aufs Engste mit der Region und ihrer nichtjüdischen Bevölkerung verbunden waren, den ihnen gebührenden Platz im öffentlichen Gedächtnis zurückzugeben, den die Nazis ihnen auch rückwirkend für immer hatten nehmen wollen.

„… in einem anderenLande“, erschienen bei Shaker Media, 411 Seiten, € 23,90

Dieser Text ist auch in der Septemberausgabe der Jüdischen Rundschau erschienen.

Mittwoch, 2. September 2015

„Monsieur Optimist“ von Alain Berenboom

Das biblische Gleichnis von Lot und seiner Frau, die sich auf der Flucht aus der untergehenden Stadt Sodom entgegen dem himmlischen Gebot ein letztes Mal umdreht und deshalb zu Salz versteinert, will uns vor einer zu starken Anhaftung an der eigenen Vergangenheit warnen, besonders wenn diese von Gewalt und vielfältigen Traumata gekennzeichnet ist. Der altgriechische Mythos von Orpheus, der seine geliebte Eurydike aus der Unterwelt befreit, nur um sie gleich darauf endgültig zu verlieren, als er selbst noch einmal zurückblickt, warnt sogar noch deutlicher: Wir werden nicht nur handlungsunfähig, wenn wir uns zu sehr mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern drohen darüber sogar unsere Liebsten zu verlieren.


In seinem neuen, im französischen Sprachraum zu Recht vielfach ausgezeichneten Buch „Monsieur Optimist“ erzählt der belgische Rechtswissenschaftler und Schriftssteller Alain Beerenboom als typischer Vertreter der sogenannten „Zweiten Generation“ die denkwürdige, unmittelbar zu Herzen gehende, tragikomische Geschichte des Lebens seiner Eltern in Belgien vor und nach dem Krieg sowie ihres unglaublichen Überlebens unter deutscher Besatzung. Die Geschichte von Lot und seiner Frau hat der Vater des Autors bis zu seinem unerwarteten Tod im Jahr 1979 immer wieder als Rechtfertigung für sein beharrliches Schweigen über die Kriegsjahre und ein überangepasstes Leben als allseits beliebter Kleinstadtapotheker und guter belgischer Staatsbürger erzählt. Nicht weniger als dreißig Jahre brauchte der Autor – seine Mutter war mittlerweile ebenfalls seit zehn Jahren tot – um sich emotional endlich auf den in wenigen Pappkartons unbeachtet im Keller gelagerten schriftlichen Nachlass seiner Eltern einlassen zu können.

Bis zum Schluss hat der Zauberer seine Nummer bewundernswert durchgezogen. Chapeau! Er hat sein Geburtsland genauso verschwinden lassen wie die Dame aus der Trickkiste, und er hat den Sohn eines osteuropäischen Einwanderers mit seinem Zauberstab in einen waschechten Brüsseler verwandelt. Er hat von seinem Sohn alles ferngehalten, was ihn hätte verstören können: seinen Großvater, seine Tante, seinen Onkel – in Luft aufgelöst wie das Dorf, in dem er hätte geboren werden können, wie der Laden, in dem er fasziniert hätte stöbern können zwischen Schachteln mit Perlmuttknöpfen und Spitzendeckchen. Verwehrt war ihm der Zugang zu den Sprachen, die ihn zum Weinen hätten bringen können, zu den wehmutsvollen Klängen eines untergegangenen Volkes. Abrakadabra.
Trotz seiner teuflischen Geschicklichkeit war der Zauberer am Ende doch nur ein Mensch. Als der Sohn ein bisschen an der Oberfläche kratzte und einen Zipfel des Vorhangs lüpfte, als er hinter die Kulissen und in die Bühnenfalltüren guckte, hat er alle Einzelteile mehr oder weniger intakt aufgespürt, die der Zauberer vor den Augen des Publikums in einer Wolke aus Pailletten verschwinden ließ.
Warum sich Fragen stellen? Warum den Vorhang anheben? Um den Stimmen Gehör zu verschaffen, den Stimmen von Frania, Aba und Sara und ihrer ganzen kleinen Welt, Lilit, Esther, Mazsa, Jafa, Fela, David.

Mit dem systematischen Öffnen einer Matrjoschka-Puppe beschreibt Berenboom das schmerzvolle Sichten dieses Nachlasses sehr treffend – jedes Dokument verbirgt ein weiteres und am Ende bleibt doch ein endgültig unenträtselbarer Kern. „Monsieur Optimist“ – ein passender Spitzname für einen ungläubigen polnischen Juden, der die Armut seines Heimatdorfes Maków und das traditionelle orthodoxe Judentum hinter sich gelassen hat, um in Lüttich Pharmazie zu studieren, mit seinen selbsthergestellten Schönheitssalben, Wunderpillen und Kräuterlikören zu bescheidenem Wohlstand gelangt und mit seiner nichtjüdischen Umwelt untrennbar verschmolzen scheint, der stets an das Gute im Menschen glaubt und mit seinen zahlreichen gleichgesinnten Freunden aus der Brüsseler Gesellschaft nächtelang über Politik und Philosophie diskutiert.

Apotheke in Brüssel/Foto: Michel Wal

Liebevoll aufgedrückt hat ihm den Spitznamen ein gern gesehener deutscher Gast, ein exilierter Radiotechniker, mit dem er sich regelmäßig zum Schachspielen trifft und der stets ein besonders offenes Ohr für seine linken politischen Theorien hat, sich jedoch nach dem Einmarsch der Deutschen als prominentes Mitglied der Fünften Kolonne erweist. Das von ihm anfertigte Radiogerät funktioniert heute noch.

Mehr als alles liebte mein Vater es, „seine Mittelchen“ herzustellen. In den Tiefen seines Labors hatte er eine Schönheitscreme entwickelt, eine Körpermilch, Dragees gegen Kopfschmerzen, ein sprudelndes durstlöschendes Getränk gegen Verstopfung, eine Vitaminmischung für schwächelnde Kinder, ein Sortiment an Sirups für alle möglichen Anwendungsgebiete, ein Dutzend unterschiedlicher Alkoholika, die er selbst im Keller destillierte, sowie extra gemixte Tinkturen für die jungen Damen, die direkt um die Ecke in den Schaufenstern der Rue du Marché arbeiteten. […] Die Cremes, Tabletten, Pomaden und anderen Produkte, die er entwickelte, hätten aus ihm den größten Konkurrenten von Herrn L'Oréal machen können, wenn er sich nicht hartnäckig geweigert htte, seine Geheimnisse den Laboratorien zu verkaufen, die bei ihm anfragte. Das wenigstens erzählt meine Mutter mit mal bewunderndem, mal bitterem Unterton, je nach Tagesform. Mein Vater hat den Behauptungen seiner Frau nie widersprochen. […] Ein Taubenzüchterklub bezog sein Hauptquartier im Café direkt neben der Apotheke. Mein Vater machte sich unverzüglich an die Herstellung von Medikamenten für Tauben. Innerhalb weniger Monate wurde er der Spezialist auf dem Gebiet. Sein Ruf machte schnell die Runde in Taubenliebhaberkreisen, und die Kundschaft strömte von überall herbei.

Der geradezu halsbrecherische Optimismus von Chaim und Rebecca zeigt sich aber nicht nur in ihrer überstürzten Hochzeit, nur wenige Wochen vor, sondern vor allem im absolut zeitgleichen Aufbruch mit dem Einmarsch der Deutschen zur Hochzeitsreise nach Frankreich inmitten von Panzern und Heerestransporten, bei dem die junge Braut einen ihrer Reisekoffer verliert, wegen dem sie sich anschließend einen jahrelangen, jedoch ergebnislosen Streit mit belgischen und französischen Behörden liefert. All dies erfährt Alain Berenboom (geboren 1947) erst nach und nach aus den ungeordneten Nachlass-Dokumenten. Die Ereignisse seit dem Einmarsch haben die Zuversicht seiner Eltern offenbar nachhaltig gedämpft – der befohlenen Eintragung ins Judenregister kommen sie brav und folgsam nach. Als der zuständige, ihnen wohl bekannte und freundlich gesinnte Polizist ihnen jedoch anderthalb Jahre später eine amtliche „Vorladung“ in eine Militärkaserne überreicht, ergreifen sie ohne Bedenkzeit sofort die ihnen von ihm gebotene Chance zum Untertauchen: mit Hilfe von hochoffiziell und „echt“ gefälschten Papieren werden sie als Ehepaar Berenbaum für tot erklärt und erhalten gleichzeitig den neuen Namen Janssen, der so typisch belgisch ist, das ihn in Hergés Tim-und-Struppi-Comics auch die vertrottelten Detektive tragen.

Alain Berenboom

Der Autor erzählt aber nicht nur eine nahezu unglaublich scheinende authentische Geschichte jüdischen Überlebens und aktiven Widerstands unter deutscher Besatzung, die ihn selbst noch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter überrascht hat. Mit viel warmherzigem Humor vergegenwärtigt er in zahlreichen, manchmal zum Weinen schönen Einzelepisoden seine eigene liebevolle, wohlbehütete Kindheit, während der seine Eltern ihren Sohn vor allem vor der eigenen Vergangenheit zu bewahren versuchten und ihm dabei eher die Liebe zu Italien als zu Israel vermittelten. „Als Gefangene im Ghetto war es für deine Großmutter eine Ehrensache, sich täglich die Zähne zu putzen.“ – Solch kuriose elterliche Motivationskniffe zum abendlichen Zähneputzen waren dabei eher die Seltenheit. In seinen wunderbaren Erinnerungen führt uns Alain Berenboom überzeugend vor Augen, dass es für die betroffene Generation durchaus heilsam, vielleicht sogar lebensrettend sein kann, den Blick zurück auf das erlittene Unrecht zu verweigern. Für das Selbstverständnis der Generationen danach ist er nicht nur außerordentlich bedeutsam, sondern geradezu unabdingbar.

„Monsieur Optimist“, aus dem Französischen von Tanja Graf und Helmut Moysich, erschienen beim Graf Verlag, 288 Seiten, € 18,-

Eine leicht veränderte Fassung dieses Artikels erschien in der Septemberausgabe der Jüdischen Rundschau.

Dienstag, 1. September 2015

„Der Golem“ von Gustav Meyrink

Es gibt kaum ein anderes Buch, das so untrennbar mit der historischen Topografie einer europäischen Metropole verbunden ist wie Gustav Meyrinks meisterhafter Schauerroman „Der Golem“ mit der tschechischen Hauptstadt Prag und ihrem legendären jüdischen Ghetto in der sogenannten Josefstadt. Dieser zentral gelegene Altstadt-Bezirk hat im Verlauf seiner beeindruckenden, über sechshundertjährigen Geschichte neben zahlreichen unglaublich klingenden Mythen und Legenden auch so illustre reale Persönlichkeiten wie Franz Kafka oder den kaiserlichen Hofbankier Mordechai Meisel hervorgebracht, vor allem aber natürlich den sagenumwobenen Talmudisten und Philosophen Rabbi Jehuda Löw – sowie dessen angeblich mit Hilfe geheimer kabbalistischer Formeln aus Ton hergestellten, frankensteinhaften künstlichen Gemeindediener, eben jenen geheimnisvollen titelgebenden Golem.


Was der Tourist dort heute als immer noch beeindruckend homogenes Jüdisches Viertel zu sehen bekommt, mit seinen zahlreichen historischen Synagogen, dem lauschigen Friedhof (mit dem Grab von Rabbi Löw) oder dem mittelalterlichen Jüdischen Rathaus, hat jedoch nur noch wenig zu tun mit der sogenannten Judenstadt, die sich seit dem 13. Jahrhundert auf diesem begrenzten Areal zunehmend unkontrolliert ausgebreitet hatte und aufgrund der beengten Verhältnisse im Lauf der Jahrhunderte zu einem untragbaren sozialen Brennpunkt geworden war – wenn auch zu einem äußerst pittoresken und stimmungsvollen: wie neben Meyrinks Roman auch die beiden kongenialen Serien von unabhängig voneinander dazu entstandenen zeitgenössischen Illustrationen Hugo Steiner-Prags (1880-1945) und Alfred Kubins (1877-1959) eindrucksvoll unterstreichen.

Hugo Steiner-Prag, Illustration zu "Der Golem"

Ab 1885 begannen die Behörden das Viertel wegen der katastrophalen hygienischen Bedingungen bis auf wenige historisch unbestreitbar wertvolle Baudenkmäler niederzureißen und anschließend mit teils veränderter Straßenführung im metropolitanen habsburgischen Stil neu wieder aufzubauen. So verschwanden innerhalb nur eines Jahrzehnts die zahlreichen windschief ineinander verbauten, merkwürdig aneinander gedrückten und aufeinander gestapelten Wohnquartiere endgültig aus dem Prager Stadtbild, denen Meyrink nachträglich in seinem dem deutschen literarischen Expressionismus nahestehenden, geradezu kafkaesken Roman ein so eindrucksvolles und plastisches Denkmal gesetzt hat.

Golem?“ – Ich habe schon so viel davon reden hören. Wissen Sie etwas über den Golem, Zwakh?“
Wer kann sagen, daß er über den Golem etwas wisse?“, antwortete Zwakh und zuckte die Achseln. „Man verweist ihn ins Reich der Sage, bis sich eines Tages in den Gassen ein Ereignis vollzieht, das ihn plötzlich wieder aufleben läßt. Und eine Zeitlang spricht dann jeder von ihm, und die Gerüchte wachsen ins Ungeheuerliche. Werden so übertrieben und aufgebauscht, daß sie schließlich an der eigenen Unglaubwürdigkeit zugrunde gehen. Der Ursprung der Geschichte reicht wohl ins siebzehnte Jahrhundert zurück, sagt man. Nach verlorengegangenen Vorschriften der Kabbala soll ein Rabbiner da einen künstlichen Menschen – den sogenannten Golem – verfertigt haben, damit er ihm als Diener helfe die Glocken in der Synagoge läuten, und allerhand grobe Arbeit tue.
Es sei aber doch kein richtiger Mensch daraus geworden und nur ein dumpfes, halbbewußtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heißt, auch das nur tagsüber und kraft des Einflusses eines magischen Zettels, der ihm hinter den Zähnen stak und die freien siderischen Kräfte des Weltalls herabzog.
Und als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das Siegel aus dem Munde des Golems zu nehmen versäumt, da wäre dieser in Tobsucht verfallen, in der Dunkelheit durch die Gassen gerast und hätte zerschlagen, was ihm in den Weg gekommen.
Bis der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel vernichtet habe.
Und da sei das Geschöpf leblos niedergestürzt. Nichts blieb von ihm übrig als die zwerghafte Lehmfigur, die heute noch drüben in der Altneusynagoge gezeigt wird.“

Es ist eine äußerst seltsame Ironie der Geschichte, dass die zahlreichen Zeugnisse jüdischen Lebens in der Josefstadt ausgerechnet deshalb erhalten geblieben sind, weil die Nazis an diesem Ort für die Zeit nach dem „Endsieg“ eine Art zynisches Museum einer „untergegangenen Kultur“ zu errichten planten und zu diesem Zweck auch zahlreiche geraubte Kunstgegenstände hier deponierten. Meyrinks Buch, in dem der historischen Judenstadt eine geradezu belebt scheinende nicht unwesentliche Nebenrolle zukommt, führt uns indes direkt ins Ghetto früherer Tage: sein namenloser Icherzähler ist über der anstrengenden Lektüre eines nicht näher bezeichneten Buches mit herausforderndem philosophischen Inhalt eingeschlafen und findet sich, diesem noch im Traum ruhelos nachgrübelnd, schließlich im düsteren Hof eines heruntergekommenen Mietshauses im Ghetto wieder, in dem er als Gemmenschneider Athanasius Pernath eine kleine, ärmliche Kammer bewohnt. In einem Torbogen vor seinem Haus stehend, beobachtet er den jüdischen Trödler Aaron Wassertrum vor dessen mit nutzlosen Dingen vollgestopftem Antiquitätenladen und sinniert über die ganz und gar lieblose, quälende Eintönigkeit seines Lebens.

Hugo Steiner-Prag, Illustration zu "Der Golem"

Doch schon bald – als habe er sich dieses Gedankens nur bewusst werden müssen – wird er unweigerlich in den unwiderstehlichen Sog einer Reihe von unheimlichen und aufwühlenden Geschehnissen hineingezogen: durch eine verborgene, ihm selbst bislang unbekannte Falltür im Fußboden seines Zimmers kommt noch am selben Abend plötzlich eine hübsche junge Frau in offensichtlicher Todesangst in sein Zimmer hereingestürmt, die ihn offenbar bestens kennt und um Schutz und Hilfe vor Aaron Wassertrum bittet, der sie und ihren heimlichen Geliebten, einen jungen Augenarzt, zu ermorden trachte. Die unverhoffte Aufgabe erfüllt Pernath mit neuer Hoffnung und Lebensmut, und er verspricht der Unbekannten, alles in seiner Macht stehende zu tun, um ihr zu helfen.

Wenn ich mich nicht getäuscht habe in der Empfindung, daß jemand in einem gewissen gleichbleibenden Abstand hinter mir die Treppe heraufkommt, in der Absicht, mich zu besuchen, so muß er jetzt ungefähr auf dem letzten Stiegenabsatz stehen.
Jetzt biegt er um die Ecke, wo der Archivar Schemajah Hillel seine Wohnung hat, und kommt von den ausgetretenen Steinfliesen auf den Flur des oberen Stockwerkes, der mit roten Ziegeln ausgelegt ist.
Nun tastet er sich an der Wand entlang, und jetzt, gerade jetzt, muß er, mühsam im Finstern buchstabierend, meinen Namen auf dem Türschild lesen.
Und ich stellte mich aufrecht in die Mitte des Zimmers und blickte zum Eingang.
Da öffnete sich die Türe und er trat ein.

Am folgenden Tag, als er über seiner filigranen Arbeit als Gemmenschneider einzuschlafen droht, betritt ein seltsam gesichts- und alterslos scheinender Mann mit asiatischen Gesichtszügen seine Kammer und übergibt ihm ein kunstvoll gestaltetes Buch in hebräischer Sprache mit der stumm artikulierten Bitte, dieses für ihn zu restaurieren. Ist die Begegnung Traum oder Realität? Warum kann Pernath plötzlich die prächtig verzierten hebräischen Buchstaben lesen, obwohl er doch niemals Hebräisch gelernt hat? Nachdem der Mann gegangen ist, hat Pernath eine seltsame Vision von einer in höchstem Maße bedeutsamen, von ihm selbst zu treffenden Entscheidung, die das Schicksal ganzer Generationen beeinflussen werde, deren Natur er aber beim besten Willen nicht zu ergründen vermag. Und während eines geselligen Abends, an dem auch die unheimliche Geschichte von Rabbi Löws Golem zum Besten gegeben wird, erfährt Pernath aus Andeutungen seiner Freunde, dass er selbst, der keinerlei Erinnerungen an seine eigene Vergangenheit besitzt, in seiner Jugend offenbar einen massiven psychischen Zusammenbruch erlitten haben müsse und nach ohnmächtigen Jahren in einer psychiatrischen Anstalt nur durch einen von ärztlicher Seite gezielt hervorgerufenen Verdrängungsprozess wieder zu einem gewöhnlichen Leben habe ermächtigt werden können.

Hugo Steiner-Prag, Illustration zu "Der Golem"

Durch einen weitläufigen Bekannten, den von heiligem Hass auf den Trödler Wassertrum verzerrten schwindsüchtigen Studenten Charousek, wird er schließlich in einen undurchschaubar scheinenden und vom Autor glänzend konstruierten Kriminalfall um fehlgeleitete Liebe, Betrug und Mord hineingezogen, der ihn mehrmals in unmittelbare Todesgefahr bringt, ihn aber am Ende seines persönlichen Weges endlich wieder Zugang zu seinen lange verschütteten Erinnerungen an seine eigene Jugend finden lässt. Neben einer bemerkenswerten, an zahlreichen unvorhersehbaren Wendungen äußerst reichen, gebannt und atemlos zu lesenden äußeren Handlung sowie einer außerordentlich intensiven, kaum abzuschüttelnden Atmosphäre nachhaltigen und subtilen Grauens besitzt der Roman aber auch eine ebenso reiche innere Handlung, in der der esoterisch bewanderte und in seinen späteren Lebensjahren zum Mahajana-Buddhismus konvertierte Autor Carl Gustav Jungs psychologisches Konzept vom Weg der menschlichen Individuation in erstaunlicher, geradezu prophetischer Synchronizität vorwegnimmt.

Hillel erriet offenbar meine Gedanken, denn er lächelte freundlich, wobei er mir von der Bahre aufstehen half und mit der Hand auf einen Sessel wies, und sagte:
Es ist auch nichts Wunderbares dabei. Schreckhaft wirken nur die gespenstischen Dinge – die Kischuph – auf den Menschen; das Leben kratzt und brennt wie ein härener Mantel, aber die Sonnenstrahlen der geistigen Welt sind mild und erwärmend.“
Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was ich ihm hätte erwidern sollen. Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu haben, setzte sich mir gegenüber und fuhr gelassen fort: „Auch ein silberner Spiegel, hätte er Empfindungen, litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und glänzend geworden, gibt er alle Dinge wieder, die auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung.“
Wohl dem Menschen“, setzte er leise hinzu, „der von sich sagen kann: Ich bin geschliffen.“

Auf seinem komplizierten und furchtbesetzten inneren Weg steht Athanasius Pernath immer wieder der weise jüdische Gelehrte Schemajah Hillel hilfreich zur Seite, in dessen hübscher und tiefsinniger Tochter Miriam der Leser fasziniert auch Jungs Idee von der weiblichen Anima widergespiegelt sieht. Die lebensnahe Charakterzeichnung der zahlreichen ebenso originell wie vielschichtig gestalteten Protagonisten verrät außerdem den begabten Satiriker und langjährigen Mitarbeiter des legendären „Simplicissimus“, als der sich der Ex-Banker Meyrink nach dem spektakulären Scheitern seiner bürgerlichen Existenz eine zweite Lebensgrundlage als freier Schriftsteller aufgebaut hatte. In seinem auch von ihm selbst nie wieder erreichten singulären Welterfolg „Der Golem“, einem Lieblingsbuch übrigens auch des großen argentinischen Dichters und Schriftstellers Jorge Luis Borges, hat Gustav Meyrink eines der unvergänglichen Meisterwerke der fantastischen Literatur geschaffen, das dem Leser auch bei wiederholter Lektüre stets neue, bisher übersehene und unverstandene Details offenbart und das trotz seines hohen symbolischen Gehalts ohne weiteres auch einfach nur als spannender Unterhaltungs- und Schauerroman gelesen werden kann: schon im ersten Jahr seines Erscheinens (1915) verkaufte sich das Buch nicht weniger als 100.000mal – für heutige Vorstellungen ein Mega-Bestseller.

Gustav Meyrink

Die im Verlag Hoffmann & Campe erschienene prachtvolle Jubiläumsausgabe mit kunstvoll gestaltetem Ganzleinen-Umschlag, traditioneller Fadenbindung und einer den Buchblock vollständig umziehenden roten Schnittverzierung gibt Meyrinks Meisterwerk erstmals seit vielen Jahren wieder eine angemessene buchkünstlerische Ausstattung mit auf den Weg. Leider allerdings vermag die „innere“ Zusatzausstattung diese bemerkenswerte Qualität nicht zu halten: das Nachwort der Literaturwissenschaftlerin und Historikerin Ulrike Ehmann bleibt auf dem oberflächlichen Niveau eines ambitionierten Abituraufsatzes stecken. Auch trägt die von ihr erstellte Zeittafel lediglich dem bemerkenswerten persönlichen Lebensweg des Autors Rechnung, während sie auf wichtige Eckdaten der Prager Stadtgeschichte, die in der Handlung des Buches eine entscheidende Rolle spielen, mit keinem Wort eingeht. Das bedauernswerteste Versäumnis der Neuausgabe ist jedoch der bewusste Verzicht auf jegliche Illustrationen. Selbst wenn die Rechte an den oben erwähnten zeitgenössischen Illustrationen in der Tat nicht verfügbar oder unerschwinglich gewesen sein sollten, hätte man den Text ebenso wirkungsvoll mit honorarfreien historischen Fotos anreichern können. Diese kleinen Schönheitsfehler werden aber letztlich von der Schönheit und dem unvergänglichen Gehalt des Textes letztlich so wirkungsvoll überstrahlt, dass am Ende die ehrliche Freude an einem der wenigen gelungenen Beispiele expressionistischer Weltliteratur in deutscher Sprache eindeutig überwiegen darf.

„Der Golem“, erschienen bei Hoffmann & Campe, 383 Seiten, € 35,-
  
Eine leicht veränderte Fassung dieses Artikels erschien in der Septemberausgabe der Jüdischen Rundschau.