Jerusalem

Jerusalem

Samstag, 28. November 2015

„Die Möglichkeit eines Verbrechens“ von Dror Mishani

„Avi, Avi! Pass auf!“, möchte man im Verlauf der Handlung von Dror Mishanis zweitem Avi-Avraham-Roman dem gutmütigen Protagonisten mit wachsender Ungeduld immer wieder zurufen und ihn dabei kräftig an den Schultern rütteln, „Du tust es schon wieder! Warum begehst du den selben verhängnisvollen Fehler ein zweites Mal?“ – Im ersten überaus originellen Band der klug konstruierten Reihe des Lehrbeauftragten für Kriminalliteratur der Universität Tel-Aviv hatte der erfahrene, stets sorgfältig arbeitende israelische Polizeiinspektor im Verlauf der erfolglosen Suche nach einem von seinen Eltern als vermisst gemeldeten Jugendlichen aus persönlicher Empathie wichtige Spuren nicht weiterverfolgt und den ebenso undurchsichtigen wie tragischen Fall um familiären Missbrauch durch sein ärgerliches Versäumnis nicht nur unnötig in die Länge gezogen, sondern hätte dabei beinahe auch die bürgerliche Existenz eines unschuldigen, aber höchst verdächtigen Lehrers des Verschwundenen vernichtet, auf den er sich als möglichen Täter regelrecht eingeschossen hatte. Für den berufenen Ermittler selbst hatte sein unbegreifliches Versagen auch berufliche Konsequenzen: ein psychologisches Gutachten, Versetzung in den Innendienst sowie den anhaltenden hämischen Spott vieler seiner Kollegen. Einziger persönlicher Lichtblick für den schüchternen Romantiker war eine zarte Romanze mit einer Brüsseler Kollegin während einer gleichsam als Strafe über ihn verhängten Fortbildung in der belgischen Hauptstadt.




Im lange erwarteten und letzten Sommer endlich in deutscher Übersetzung erschienenen zweiten Band der Reihe ist Avi Avraham beruflich weitgehend rehabilitiert und darf ernsthaft hoffen, schon bald wieder seinen ersten eigenen Fall seit seiner Suspendierung zu leiten, während er im Privaten voller Vorfreude dem baldigen Eintreffen seiner belgischen Freundin entgegenfiebert. Die Beziehung der beiden hat sich im Verlauf der letzten Monate durch einen mehrwöchigen Liebesurlaub in Belgien intensiviert, und sie steht kurz davor, ihren Dienst in Brüssel zu quittieren und zu ihm nach Tel Aviv zu ziehen. Eines Morgens wird vor einem kleinen privaten Kindergarten in der schäbigen Vorstadt von Cholon im Bezirk Tel Aviv ein verdächtiger herrenloser Koffer gefunden – Bombenalarm wird ausgelöst und entsprechend der üblichen Mechanismen des tagtäglich von Terrorismus bedrohten jüdischen Staates rückt ein Räumkommando an, evakuiert die Nachbarschaft und die Polizei beginnt zu ermitteln. Als sich nach der kontrollierten Sprengung des Gegenstands herausstellt, dass es sich dabei nicht um eine Kofferbombe handelte, sondern lediglich um eine täuschend echte Attrappe, wird entschieden, dass Avi Avraham den vermeintlich unbedeutenden Fall als persönliche Bewährungsprobe übernehmen darf.

Er räusperte sich und sagte: „Jedes Mal denke ich, es würde anders enden, weißt du? Zu Beginn jeder Ermittlung. Das alles, was war, gelöscht ist. Aber nichts wird gelöscht, alles sammelt sich nur von einem Fall zum nächsten an. Ich war mir sicher, dass es diesmal tatsächlich so war, aber auch bei diesem Fall habe ich es nicht geschafft, irgendjemanden zu retten. Weder sie noch die Jungen und auch mich selbst nicht.“
Sie rückte noch näher an ihn heran. „Avi, ich glaube nicht, dass es möglich ist, Kinder vor ihren Eltern zu retten.“ Sie verstummte und fügte dann hinzu: „Aber vielleicht gelingt es dir eines Tages.“ Er schloss die Augen.

Mit großem, möglicherweise sogar zu großem Engagement stürzt sich der Inspektor in die Ermittlungen. Der monatelange, seinen eigentlichen detektivischen Fähigkeiten nicht im geringsten angemessene Innendienst und die zahlreichen drängenden Fragen, die sich auch für ihn selbst aus seinem unerklärlichen Versagen ergeben haben und eine anhaltende Belastung für seine angeschlagene Psyche darstellen, haben seinen persönlichen Ehrgeiz, sich nicht nur vor seinen Kollegen und Vorgesetzten, sondern vor allem auch vor sich selbst wieder zu beweisen, in unrealistische Höhen geschraubt. Bei ersten Befragungen der Kindergartenleiterin, ihrer Mitarbeiterinnen und weiterer Zeugen, konzentriert er sich bald schon auf Eltern, die bekanntermaßen aus unterschiedlichsten individuellen Gründen mit der Institution in Konflikt stehen. Insbesondere die widersprüchliche Aussage des Betreibers eines kleinen Catering-Service‘, Chaim Sara, der in den frühen Morgenstunden in Tatortnähe gesehen wurde und sich bei verschiedener Gelegenheit in aggressivem Ton mit der Leiterin des Kindergartens über die Erziehung des jüngeren seiner beiden Söhne gestritten hat, lässt einen unbestimmten Verdacht in Avi Avraham aufkeimen, den keiner seiner Kollegen zu teilen scheint, dem er selbst sich aber trotz seiner problematischen Vorgeschichte nicht zu entziehen vermag, so dass er auch gegen den expliziten Wunsch seiner direkten Vorgesetzten unbeirrt weiterermittelt, anstatt routinemäßig einer Spur zu einer ehemaligen Mitarbeiterin des Kindergartens zu folgen, die ihre Stelle erst kürzlich überraschend gekündigt hat.

Cholon, Israel/Foto: Miroslaw Z. Wojalski


Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als der Inspektor auf eigene Faust den von ihm verdächtigten Chaim Sara beschattet, dessen philippinische Ehefrau angeblich auf Urlaub in ihre Heimat geflogen ist, wird die wenig mitteilungsfreudige Leiterin des Kindergartens von Unbekannten tätlich angegriffen und dabei so schwer verletzt, dass sie nach einer langwierigen Notoperation ins Koma fällt, über dessen voraussichtliche Dauer die behandelnden Ärzte keinerlei zuverlässige Aussage zu treffen vermögen. Während Avi im privaten Handlungsstrang des Romans verzweifelt auf eine Nachricht von seiner Freundin wartet, die seit Tagen aus ungeklärtem Grund ihr Handy abgestellt hat und auf seine Festnetz-Anrufe nicht reagiert, scheint alles darauf hinauszulaufen, dass der sensible Ermittler kurz davor steht, auch dieses Mal den neutralen Überblick zu verlieren und seine lang ersehnte Bewährungschance auf spektakuläre Art und Weise zu vermasseln. Als Leser sind wir ihm allerdings aufgrund der Parallelperspektive aus Chaim Saras Sicht ein gutes Stück voraus und können durch diesen cleveren Trick des Autors umso mehr ehrlich empfundene Empathie für den unverstandenen Polizisten in unsere Lektüre einbringen, der bis zum Schluss aus genuinem detektivischem Instinkt auf seinen Anfangsverdacht vertraut und diesmal auf ungeahnte Weise richtig liegt.

Chaim hätte sich die Gesichter seiner Söhne stundenlang anschauen können, aber nicht aus dem Grund, aus dem die meisten Eltern dies taten, so dachte er. Er betrachtete die schmalen Augen, die andersartigen Gesichtszüge und versuchte zu erkennen, worin sich diese von seinen eigenen unterschieden und worin sie ihm doch ähnlich sahen. Von Shalom wurde immer gesagt, er gliche ihm etwas mehr, aber von seinem Charakter kam er eher nach Jenny. Quirlig und eine Plaudertasche. Während hingegen Eser, der Chaim mit seinem ausdauernden Schweigen und seiner Verschlossenheit so sehr an sich selbst erinnerte, ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war, ja manchmal buchstäblich wie sie aussah. Die Fremdheit in ihren Gesichtern würde ihnen stets anhaften. Er hatte dies vor allem durch die Augen anderer Menschen begriffen. [...] Auch an die Geburt erinnerte er sich. An Jennys Schreie und an seine Sorge, seinem Sohn könne während der Geburt etwas zustoßen. Die Ärztin auf der Entbindungsstation hatte es abgelehnt, Jenny aufzunehmen, auch als diese sagte, sie habe bereits Wehen. Sie wurden gebeten, in ein paar Stunden wiederzukommen, und Chaim war sich sicher gewesen, dass dies nur wegen ihrer Fremdheit geschah. Er hatte aber nicht zu protestieren vermocht und Jenny, die sich vor Schmerzen krümmte, wieder mit nach Hause genommen.

Dror Mishani erweist sich auch in seinem zweiten Roman als überaus versierter, hoch origineller Erzähler. Diesmal droht ihm allerdings mehrmals das im Sinne eines ökonomischen Spannungsbogens notwendige Verhältnis zwischen dem organischen Fortschreiten der Handlung und dem bewusst inszenierten erzählerischen Vorenthalten wichtiger Fakten aus einem für den Leser zumutbaren Gleichgewicht zu geraten. Im Falle von Avi Avrahams detektivischem Streben nach Aufklärung des ihm übertragenen Falles ist dies ohne Zweifel vollkommen legitim: die meisten Kriminalromane funktionieren genau nach diesem Prinzip, dass sämtliche Informationen, Fakten und Indizien vom ermittelnden Detektiv erst über einen bestimmten Zeitraum zu einem vollständigen Gesamtbild zusammengesetzt werden müssen. Dadurch ergibt sich zwangsläufig ein Wissensdefizit, das der Leser mit dem Ermittler teilt. Die von Chaim Sara selbst umrissene alternative Perspektive in Mishanis Roman funktioniert jedoch für den Leser über einen nicht unwesentlichen Teil der Lektüre nur, weil der Verdächtige in seinen inneren Monologen stets nur das ausspricht, was wir als seine Beweggründe im Rahmen seiner psychischen Disposition sowie seinen spezifischen Lebensumständen durchaus billigend nachvollziehen und sogar als logische Konsequenz aus seiner möglichen Tat werten können, wie auch immer diese ausgesehen haben mag; das eigentliche zurückliegende Verbrechen, das er möglicherweise begangen hat, bleibt aber ebenso in Saras erzählerischem Off wie das von Avi fälschlicherweise vermutete zukünftige.


Dror Mishani/Foto: Yanai Yechiel

Auch in seinem zweiten geistreich-spannenden Fall verbeißt sich der wackere Avi Avraham intuitiv in einen höchst subjektiven, auf eine bestimmte Person gerichteten Verdacht, den keiner seiner Kollegen mit ihm teilt. Diesmal allerdings gelingt es ihm mit Hilfe seines kriminalistischen Gespürs, einen Fall zu lösen, den niemand sonst innerhalb der Polizeibehörden überhaupt als möglichen Fall wahrgenommen hatte. Dass der verunsicherte Inspektor allerdings am Ende die meisten Lorbeeren ausgerechnet für das scheinbar weitsichtige Verhindern einer zukünftigen Tat einheimst, die vom vermuteten Täter überhaupt nicht intendiert war, hebt Dror Mishanis durchdachten Plot weit über das übliche Niveau eines gewöhnlichen Kriminalromans heraus. Auch das gute psychologische Gespür des Schriftstellers für seine Protagonisten und ihre Handlungsmotive sowie seine sensible, empathische Weltsicht machen den Israeli ohne Zweifel zu einem der interessantesten aktuellen Vertreter des zeitgenössischen klassischen Kriminalromans, dem gerade angesichts des offenkundigen aktuellen Desinteresses an israelischer Literatur auf dem deutschen Buchmarkt (über das an anderer Stelle noch zu reden sein wird) viele unbefangene Leser zu wünschen sind. Am Ende darf sein wortkarger Ermittler nach einem Wechselbad der Gefühle und einer erneuten Reise nach Brüssel erneut in eine fragile Idylle privaten Glücks eintauchen. Man darf sich auf weitere Fälle des sympathischen Anti-Helden freuen!

„Die Möglichkeit eines Verbrechens“, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, erschienen bei Zsolnay, 336 Seiten, € 19,95

Freitag, 27. November 2015

„Odins Söhne“ von Harald Gilbers

Für seinen packenden historischen Kriminalroman „Germania“ wurde der langjährige Fernsehredakteur und Theaterregisseur Harald Gilbers im Jahr 2014 zu Recht mit dem Friedrich-Glauser-Preis für das beste (und überraschendste) Krimi-Debüt des Jahres ausgezeichnet. In seinem überaus originellen, vielfach gebrochenen Protagonisten Richard Oppenheimer, einem von den Nazis verfolgten jüdischen Ex-Kriminalkommissar, der im vom intensiven alliierten Luftkrieg geprägten Berlin der letzten Kriegsjahre untergetaucht ist, hat der studierte Historiker gewissermaßen einen politisch korrekteren Gegenentwurf zu Philip Kerrs unverwüstlichem kriminalistischen Dauerbrenner an deutschen Kriegsschauplätzen, Bernie Gunther, geschaffen, der in seinen persönlichen Widersprüchen nicht nur sehr viel komplexer angelegt ist als sein nahezu gleichaltriger jüdischer Kollege, sondern sich auch gegen seinen Willen immer wieder in die politischen Intrigen und Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt, woraus die international vielfach prämierte Reihe ohne Zweifel einen großen Teil ihrer Spannung bezieht. 




Der amphetaminabhängige Oppenheimer hingegen lebt im nationalsozialistischen Berlin unter doppelter Lebensgefahr: als illegaler Jude kann er jederzeit entdeckt oder denunziert und nach Auschwitz deportiert werden, gleichzeitig schwebt über ihm aber auch das Damoklesschwert eines nicht weniger unpersönlichen Todes im nahezu allnächtlichen alliierten Bombenhagel, das er mit allen anderen Bewohnern Berlins teilt. Zwar scheint die Konstruktion der Figur eines verfolgten Juden im Jahr 1944/45, der Dank einer gefälschten Identität unbehelligt als Nachtwächter in einem kriegswichtigen Betrieb arbeitet (und daher nicht zur Wehrmacht eingezogen werden kann) angesichts des unvorstellbaren, uns in seinen furchtbaren Details nur allzu bekannten kollektiven Leidens in den Konzentrationslagern besonders zu Beginn des nun vorliegenden zweiten Bandes der Reihe, „Odins Söhne“, durchaus gewagt und nicht wenig verharmlosend, möglicherweise unangemessen, doch gelingt es dem Autor erstaunlich schnell, uns mit einer ebenso spannenden wie gut recherchierten, an authentischen Fakten reichen Handlung von seiner durchdachten Konstruktion zu überzeugen.

Also abgesehen von der Thule-Gesellschaft – könnte man noch andere Sekten mit den Indizien in unserem Fall in Verbindung bringen?“
Larsen schmunzelte. „Diese Vorstellungen kursierten schon weit vor dem Aufkommen der Nationalsozialisten. In den letzten Jahrzehnten gab es so viele Logen und okkulte Verbindungen, dass es schwerfällt den Überblick zu behalten.“[...]
Oppenheimer blickte Larsen aufmerksam an.
Aber die Leute haben doch sicherlich bemerkt, dass das alles Unfug ist“, wandte er ein. „Nur eine Minderheit kann an so etwas geglaubt haben.“
Natürlich“, sagte Larsen. „Dieser Okkultismus wurde allgemein als Spinnerei abgetan, als skurrile Randnotiz. Doch die damit verbundenen Vorstellungen gärten im Untergrund weiter und verbreiteten sich schließlich im gesamten deutschsprachigen Raum. Die Anhänger der sogenannten Ariosophie glauben, dass es in der Vergangenheit mal ein goldenes Zeitalter gab, in der die arische Rasse klar überlegen war. Die Ahnen werden als Gottmenschen mit ungeahnten Kräften verklärt. Und das Ziel ist nun, diesen ursprünglichen Zustand wieder herzustellen.“

Besonders lobenswert ist Harald Gilbers geglückter Versuch, dem interessierten Leser die auch heute noch vielen Menschen weitgehend unbekannten Wurzeln der nationalsozialistischen Ideologie sowie auch die direkte persönliche Verstrickung wesentlicher Protagonisten des Nationalsozialismus in pseudowissenschaftliche, esoterische und sektiererische Weltanschauungen vor Augen zu führen, die seit dem Übergang vom Neunzehnten zum Zwanzigsten Jahrhundert für eine zunehmende Anzahl angesichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen ihrer Zeit verunsicherter Menschen mögliche Auswege aus der Unsicherheit ihrer Existenz anzubieten schienen. Die seinerzeit ausgesprochen populäre, insbesondere auch von den Nationalsozialisten geförderte, aus heutiger Sicht geradezu absurd wirkende sogenannte Hörbigersche Welteislehre als in sich geschlossenes alternatives kosmologisches System ist nur ein eher harmloses Beispiel seinerzeit weit verbreiteter Denkansätze, die unserem heutigen Verlangen nach esoterischer Lebenshilfe und Fantasy in Film und Literatur nicht unähnlich sind.

Zerstörtes Propagandaministerium, März 1945/Bundesarchiv, Bild 183-J313336



Richard Oppenheimer gerät gleich zu Beginn des Romans in eine heimtückische, selbst für den routinierten Kriminalisten schwer durchschaubare Falle, die im weiteren Verlauf der Handlung nicht nur ihn selbst in höchste Lebensgefahr bringt, sondern auch seine resolute Gönnerin, die in eigener Praxis niedergelassene Allgemeinmedizinerin Hildegard von Strachwitz, eine Schlüsselfigur des Widerstandes, die ihn schon im ersten Band der Reihe mehrfach vor der drohenden Verhaftung gerettet hatte, unter Mordanklage und dem nicht weniger gefährlichen Vorwurf der Wehrkraftzersetzung vor den berüchtigten Volksgerichtshof Johann Freislers. Hildes bereits seit Jahren getrennt von ihr lebender Ehemann hat als skrupelloser Lagerarzt von Auschwitz das Chaos während der Liquidierung des Lagers genutzt und sich mit einer Zugladung Morphium aus SS-Beständen nach Berlin abgesetzt. Mit Hilfe seiner Frau möchte er die heiße Ware möglichst unverzüglich gewinnbringend verkaufen, um sich mit dem zu erwartenden beträchtlichen Erlös nach Kriegsende im Ausland eine neue, unverfängliche Existenz aufzubauen.

Einsam und verlassen lag das Büro im Zwielicht, an der Zimmerdecke tanzten schwache Lichtreflexe. Auf dem Schreibtisch fand Oppenheimer zu Glück eine Petroleumlampe und zündete den Docht an, während Schmude die Vorhänge zuzog. Sie mussten vorsichtig sein. Obwohl es in der Umgebung lichterloh brannte, war es nicht ausgeschlossen, dass übereifrige Nachbarn die Polizei alarmierten, wenn jemand die Verdunklungsvorschriften missachtete.
Als die Lampe das Zimmer erhellte, mochte Oppenheimer seinen Augen nicht trauen.
Auf Peters' schäbigem Schreibtisch lag eine Schachtel voller Judensterne.
Was zum Teufel ist denn das?“, fragte Schmude.
Das siehst du ja“, murmelte Oppenheimer. „Und hier in der anderen Schachtel sind Entlassungsformulare. Alles blanko. Fürs Gefängnis, sogar fürs Konzentrationslager.“
Unterdessen hatte Schmude einen der Koffer geöffnet, die Peters in der Ecke übereinandergestapelt hatte.
Hier haben wir Gefängniskleidung.“ Er breitete eine gestreifte Hose aus. „Mit Gebrauchsspuren. Sieht ziemlich echt aus.“
Oppenheimer wurde zornig. „Dieses Schwein“, knurrte er. „Weißt du, was das ist? Das hier ist das perfekte Alibi.“

Die von Oppenheimer vermittelte Übergabe des Stoffs an die Berliner Unterwelt misslingt jedoch auf katastrophale Weise, und zwei Tage später wird von einer Polizeistreife die enthauptete Leiche des flüchtigen KZ-Arztes in dessen verwüsteter Wohnung aufgefunden. Erste und für die Behörden einzige Tatverdächtige ist seine Frau Hilde, die ihn zuverlässigen Zeugenaussagen zufolge noch wenige Stunden vor dem geschätzten Todeszeitpunkt aufgesucht und laut mit ihm gestritten hatte. Die offizielle Anklage vor dem bekanntermaßen im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie voreingenommenen Volksgerichtshof lautet nicht nur auf Mord, sondern auch auf Wehrkraftzersetzung, beide Vorwürfe für sich allein sichere Todesurteile.

Nazis unter sich/ Bundesarchiv, Bild 151-10-11

Natürlich nimmt Oppermann unverzüglich private Ermittlungen auf, wohl wissend, dass ihn dies in unmittelbare Gefahr bringt, weil auch er selbst zum fraglichen Zeitpunkt am Tatort war. Doch der verzweifelte Versuch, seine Wohltäterin rechtzeitig vor dem kurzfristig anberaumten Prozessbeginn zu entlasten, ist bei weitem nicht seine einzige Sorge: er erhält auch eine Einberufung zum „letzten Aufgebot“ des sogenannten Volkssturms, was ihn erneut in erhebliche persönliche Gefahr bringt, als Jude enttarnt und in den Tod geschickt zu werden.

Um es klarzumachen: Wenn ich den Schießbefehl gebe, dann tut ihr nur so und sagt 'Peng!'. Das reicht. Wir sind nicht hier, um Patronen zu verplempern. Später wird jeder von euch fünf Kugeln bekommen, um das Vaterland zu verteidigen. Es ist eure Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jeder abgegebene Schuss ein Treffer ist. Jede einzelne Patrone zählt! Und Sie...“ Niklisch zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Oppenheimer und starrte ihn hasserfüllt an. „Ich werde persönlich dafür sorgen, dass Sie nur vier Patronen bekommen! Das haben Sie dann davon. Und kommen Sie ja nicht heulend angerannt, wenn Sie einer Horde Russen gegenüberstehen! Ab in die Reihe!“ Zerknirscht trat Oppenheimer in die Reihe zurück. Diese Veranstaltung war noch absurder, als er es ohnehin erwartet hatte. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

Auch in seinem zweiten Oppenheimer-Roman gelingt dem Autor eine erschreckend unmittelbare literarische Vergegenwärtigung der bedrückenden Atmosphäre eines Lebens im kontinuierlichen Ausnahmezustand. Im nationalsozialistischen Berlin des Winters 1945 kann nicht nur jeder falsche Schritt und jeder unbedachte Aufenthalt am falschen Ort, sondern sogar jedes unüberlegte Wort das sichere Todesurteil bedeuten. Noch häufiger als im ersten Band wird Oppenheimer dabei im Lauf seiner verzweifelten Ermittlungsbemühungen von den aufs Äußerste intensivierten, schon längst nicht mehr nur auf nachts beschränkten Bombenangriffen der Alliierten behindert. Es ist ein großartiger, metaphorisch kaum zu übertreffender Einfall, wie sich der Protagonist ebenso wie die von ihm beschatteten Verdächtigen immer wieder unvermittelt einen sicheren Unterschlupf in einem Kellerraum oder einem öffentlichen Gemeinschaftsbunker suchen müssen, um das Bombeninferno wohlbehalten zu überstehen. Die Spannung des Romans wird dadurch noch deutlich gesteigert – von genialer Absurdität ist die finale Verfolgungsszene, in der Ermittler und Zielperson einträchtig im Bunker sitzen und auf das Entwarnungssignal warten.

Harald Gilbers/Foto: Ronald Hansch

Als schwer greifbarer Strippenzieher im Hintergrund erweist sich schließlich der skrupellos-verblendete Guru einer durch und durch von rassistischen Überlegenheits- und mystizistischen Erlösungsgedanken durchdrungenen völkischen Sekte, deren ebenso weltfremde wie lebensfeindliche Ideologie sich der Autor gar nicht erst ausdenken musste, sondern sich aus authentischen Vorbildern, wie sie auch Elisabeth Hamann in ihrem Buch „Hitlers Wien“ ausführlich beschreibt, frei zusammenstellen konnte, ohne sie im Sinne einer stärkeren Wirkung noch weiter ausschmücken zu müssen. Den unvoreingenommenen Blick des nachhaltig irritierten Lesers gezielt auf den inneren Zusammenhang zwischen sektiererischen Erlösungsgedanken und dem verhängnisvollen Weg in einen totalitaristischen Staat zu richten, ist gerade auch angesichts der Herausforderungen unserer Zeit vielleicht der größte Verdienst des spannenden Kriminalromans. Denn im Gegensatz zu den unmittelbar betroffenen Protagonisten des Buches befinden wir uns als „unbeteiligte“ Leser in der bequemen Lage, die beschriebenen Ereignisse aus einer Perspektive zu betrachten, die wir uns vielleicht generell zu eigen machen sollten, da sie allein uns wirksam befähigt, Erlebtes und Beobachtetes rational und unvoreingenommen, gleichsam „neutral“ zu beurteilen. In diesem Fall werden unser Schrecken und unsere Erschütterung dadurch letztlich nur noch gesteigert. Einen derart nützlichen inneren Prozess umfassenden Begreifens im Leser auszulösen, ist ohne Zweifel eine große schriftstellerische Leistung. Das mit seinem literarischen Debüt gegebene Versprechen vermag Harald Gilbers auf diese Weise ohne Abstriche einzulösen.

„Odins Söhne“, erschienen bei Knaur, 528 Seiten, € 9,99

Donnerstag, 26. November 2015

„Akzeptanz“ von Jeff VanderMeer

Es ist absolut kein Zufall, dass im furchtbesetzten finalen Showdown des dritten Bandes von Jeff VanderMeers fulminanter Southern-Reach-Trilogie ausgerechnet jener überrational-penible FBI-Stratege und unnahbare kommissarische Direktor der kafkaesken Southern-Reach-Geheimbehörde, der sich von seinen untergeordneten Mitarbeitern in blinder Hybris durchaus folgerichtig und dennoch in kaum zu übertreffender Fehleinschätzung „Control“ nennen lässt, den für den Leser wie für ihn selbst bis zuletzt ganz und gar undenkbaren, grenzüberschreitenden Sprung ins ungewisse Leuchten der mysteriösen außerirdischen Lebensform wagt, die sich im Verlauf der vergangenen zwanzig Jahre im militärischen Sperrgebiet „Area X“ ausgebreitet hat und offensichtlich die schöpferische, möglicherweise „göttliche“ Fähigkeit besitzt, das unterlegene irdische Leben nach Belieben zu reproduzieren und zu transformieren.



Der erste düster-spannende Band „Auslöschung“ hatte aus Sicht einer autistisch veranlagten Biologin, Teilnehmerin der angeblich zwölften Expedition nach Southern Reach, eine erste und scheinbar endgültig entmutigende Begegnung mit dem usurpatorischen Phänomen von Area X geschildert. Eine geheimnisvolle außerirdische Lebensform hatte in einem abgelegenen, zum Sperrgebiet erklärten Küstenabschnitt eine vollkommen neue invasive, zum Teil sogar monströse Fauna und Flora hervorgebracht, die sich allen menschlichen Versuchen, diese auch nur ansatzweise zu begreifen oder gar erfolgreich zu bekämpfen zu entziehen vermochte. In seiner kongenialen Beschreibung der mit außerirdischem Leben kontaminierten Area X und den erfolglosen menschlichen Versuchen, in eine seinen begrenzten Fähigkeiten entsprechende Beziehung dazu zu treten, sind Jeff VanderMeer in ihrer stringenten Prägnanz und Schönheit bisher selten erreichte Bilder von der dunkel-bedrohlichen Welt des Unbewussten gelungen, die ganz besonders den ersten, ausgesprochen dicht und spannend konstruierten Auftaktband „Auslöschung“ zu einem der größten literarischen Highlights der letzten Jahre machen, der in seiner unmittelbaren Relevanz und Themenfülle weit über die Grenzen der eng miteinander verwandten Genres Science-Fiction und Fantasy hinausweist.

Es hat wohl nie ein Ambiente gegeben, das in seiner Existenz so wenig auf die Seelen angewiesen ist, die sich gerade in ihr aufhalten.“ Ein Satz aus einem Text am College, an den Ghostbird sich erinnerte, und an den die Biologin hatte denken müssen, als sie auf dem unbebauten Grundstück stand und ein Kurzkopfgleitbeutler lautlos von einem Telefonmast zum nächsten geflogen war. Der Text hatte sich auf Stadtlandschaften bezogen, aber die Biologin hatte ihn auf die Natur übertragen, oder zumindest auf das, was man als Wildnis interpretieren konnte, obwohl die Menschen die Welt so umgestaltet hatten, dass nicht einmal Area X dazu in der Lage war, deren Zeichen und Symbole gänzlich auszulöschen. Invasive Arten von Büschen und Bäumen waren nur ein Aspekt davon; der andere war, wie allein die Andeutung eines von Menschen angelegten Pfades die Topografie eines Ortes veränderte. „Die einzige Lösung für die Umwelt ist das Vergessen, und Voraussetzung dafür ist unser Untergang.“ Diesen Satz hatte die Biologin aus ihrer Abschlussarbeit gestrichen, aber er hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt, und entfaltete auch jetzt noch in Ghostbird eine gewisse Kraft, obwohl sie ihn wie alle übernommenen Erinnerungen kritisch auf Distanz hielt. Angesichts der Erinnerung an tausend Augen, die sie anstarrten.

Der insgesamt komplexere zweite Teil der Reihe, „Autorität“, schilderte aus der nüchtern-wissenschaftlichen Sicht der streng geheimen militärischen Kontrollbehörde, insbesondere ihres überforderten kommissarischen Leiters, die zahlreichen erfolglosen bürokratischen Versuche der Regierungsorganisation, das bedrohliche Phänomen von Außen her zu begreifen und mit Hilfe der unterschiedlichsten wissenschaftlichen und philosophischen Denkmodelle mögliche Gegenmaßnahmen zu erarbeiten. Wir erfahren auch, dass es im Lauf der Jahre nicht nur zwölf Expeditionen gab, sondern nicht weniger als 38. Am Ende des zweiten Bandes beginnt sich das außerirdische Phänomen ohne jede Vorwarnung unkontrolliert bis über die bis dahin geltenden „natürlichen“ Grenzen seines Habitats und die zahlreichen vom Militär geschaffenen Schutzbarrieren auszubreiten, um sich zu einer umfassenden, möglicherweise globalen biologischen Bedrohung auszuwachsen. Im surreal-apokalyptischen Finale gelangt Control schließlich gemeinsam mit einer von der außerirdischen Lebensform geschaffenen „geklonten“ Version der Biologin zurück ins unmittelbare Kerngebiet der Area X – ein kaum auszuhaltender erzählerischer Cliffhanger, der gleich zu Beginn des Abschlussbandes „Akzeptanz“ direkt wieder aufgenommen wird.

Kõrvemaa Nature Park, Estland/Foto: Ireena

Die schriftstellerische Mammutaufgabe, die vielen verschiedenen Handlungsstränge, die ganze Fülle der handelnden Personen sowie die zahlreichen unterschiedlichen Themenstellungen im Rahmen einer ebenso fesselnden wie plausiblen und in sich stets stimmig bleibenden Handlung zusammenzuführen, löst der Autor mit bewundernswertem Geschick, indem er das Buch noch stärker als zuvor im ständigen Wechsel aus den unterschiedlichen Perspektiven seiner wesentlichen Protagonisten (wie dem Leuchtturmwärter, der Direktorin, ihrer Stellvertreterin,  der Biologin und ihrem Klon sowie Control) erzählen lässt, die zum Teil in unterschiedlichen, sich zum Teil jedoch berührenden oder gegenseitig überlagernden Zeitebenen agieren. So erfahren wir aus der jeweiligen Innensicht der verschiedenen Ich-Erzähler, wie sich die außerirdische Lebensform in Area X ursprünglich nur allmählich in der Landschaft anreicherte, durch eine Unachtsamkeit einer skurrilen parapsychologischen Sondereinheit des Geheimdienstes leichtfertig freigesetzt wurde und sich dann zunehmend unkontrollierbar ausbreitete.

Die Sonne war eine flüsternde Scheibe in seinem Rücken. Es war wärmer geworden, aber es ging eine leichte Brise, die die Wedel der kleinen Palmen rasseln ließ. Irgendwo hinter ihm war das Mädchen und sang ein albernes Lied; es war schneller von dem Felsen heruntergekommen, als er erwartet hatte. In diesem Augenblick existierte für ihn nichts anderes als die Pflanze und diess Glitzern, das er nicht genauer bestimmen konnte. Er trug immer noch die Handschuhe und streckte die Hand nach dem Glitzerding aus, strich über die Blätter. War das eine kleine Lichtspirale, die sich bewegte? Es erinnerte ihn an den Blick in ein Kaleidoskop, mal abgesehen von diesem intensiven Weiß. Aber was auch immer da waberte und glitzerte, es wich seinem Zugriff aus, und er schien kurz davor, ohnmächtig zu werden. Erschrocken zuckte er zurück. Aber es war zu spät. Er spürte, wie eine Art Splitter in seinen Daumen eindrang. Es tat nicht weh, nur ein kurzer Druck und dann Taubheit, aber trotzdem sprang er überrascht auf, jaulte und wedelte mit der Hand hin und her. Fieberhaft riss er sich den Handschuh herunter und untersuchte seinen Daumen. Wohl wissend, dass Gloria ihn beobachtete, unsicher, was sie davon halten sollte. Jetzt glitzerte nichts mehr auf dem Boden vor ihm. Kein Licht am Fuß der Pflanze. Kein schmerzender Daumen.

Wir erfahren auch, dass die Zeit innerhalb des kontaminierten Sperrgebiets viel schneller fortschreitet: während nur weniger Tage in der Außenwelt sind in Area X bereits mehr als zwei Jahre vergangen. Und trotz des unbegreiflichen Schreckens der Transformation der realen Biologin in ein gargantueskes vieläugiges Meereswesen, der uns Jeff VanderMeer innerhalb des Verlaufs der Handlung aussetzt, beginnen wir allmählich eine mehr als weitläufige Ahnung zu entwickeln, dass die außerirdische Lebensform möglicherweise weniger bösartig ist als wir bisher gemeinsam mit den unmittelbar betroffenen Protagonisten angenommen haben oder dass sie zumindest kein Bewusstsein für die Natur ihres Handelns im Sinne menschlicher moralischer Maßstäbe zu besitzen scheint: eine der rührendsten Szenen des Buches ist die geradezu symbiotische Beziehung zwischen der Ur-Biologin (vor ihrer Verwandlung) und jenem Wesen, das sie aus gutem Grund für die abgeschlossene Mutation ihres als Teilnehmer einer früheren Expedition verschollenen Mannes hält, einem ungewöhnlich zutraulichen Uhu, der fürsorglich für sie Kaninchen jagt und dem auch sie selber, als er allmählich älter wird, immer wieder die eine oder andere Maus hinlegt.

"Seeungeheuer"/Foto: Jerzy Strzelecki

Die konkrete physische Form indessen, die die Biologin nach Abschluss ihres Verwandlungsprozesses angenommen hat, ist ihrer ursprünglichen Wesensart durchaus nicht unähnlich, und es gelingt dem Autor durch seine mitfühlende, fast liebevolle bildmächtige Beschreibung fast mühelos, ihren durchaus monströsen Zustand als keineswegs willkürlich darzustellen, sondern als möglicherweise folgerichtige (Rück-)Besinnung auf ihren innersten individuellen Kern: sie ist nur noch eine gewaltige, wachsame, vieläugige Präsenz. Sie scheint im absoluten Einklang mit ihrem Lebensraum zu existieren, und es gibt keinerlei moralische oder ästhetische Wertung ihres Zustandes. Ähnlich wie der geklonten Ripley in „Alien – Die Wiedergeburt“ gelingt es ihrer übermenschlich perfektionierten Doppelgängerin schließlich, durch eine von ihr selbst aktiv herbeigeführte Begegnung mit der furchterregenden „Crawler“ genannten Schlüssel-Kreatur aus dem ersten Band die schöpferische Kraft von Area X zu bannen. Doch erst durch Controls spontanen Sprung ins ungewisse gleißende Licht des Fremden, die einer fundamentalen Selbstaufgabe gleichkommt, zieht sich die fremde Lebensform gänzlich ins namenlose, von uns weder verstandesmäßig noch mit unseren Sinnen fassbare Unsichtbare, möglicherweise nur in uns selbst schlummernde Nichts und Alles zurück.

Vielleicht war die letzte Antwort der Biologin die einzige Antwort, die zählte, und ihr ganzer Brief eine Beruhigungspille für Erwartungen, für Reaktionen, die fest in den Menschen verankert waren. Ein letzter Aufschub, bevor sie selbst so weit war, der richtigen Antwort eine konkrete Form zu geben? Vielleicht hatten sich so viele Tagebücher oben im Leuchtturm angesammelt, weil mit der Zeit den meisten Verfassern die Nutzlosigkeit von Sprache aufging. Nicht nur in Area X, sondern im Angesicht der Wahrhaftigkeit des gelebten Augenblicks, des Moments einer Berührung, einer Vereinigung, die mit Worten zu beschreiben eine so schmerzhafte Enttäuschung war, so unzulänglich, sowohl das Endliche als auch das Unendliche auszudrücken. Auch wenn sogar der Crawler seine schreckliche Botschaft in Worte kleidete.

Es wäre sicherlich zu einfach zu behaupten, dass VanderMeers faszinierende Trilogie von den unermesslich großen und gleichzeitig unwägbaren Möglichkeiten handelt, die sich für das menschliche Individuum durch ein unmittelbar und mit allen Sinnen bewusst gelebtes Leben ergeben können. Der Begriff aktiver Akzeptanz ist jedoch nicht zufällig das übergeordnete Thema des Buches, das uns VanderMeer als möglichen Ausweg aus den verschiedenartigen Fragestellungen der gesamten Trilogie anbietet: Nur die bewusste Annahme dessen, was ist, kann uns mit den kaum antizipierbaren Herausforderungen unseres Lebens und seinen zahlreichen zum Teil grausamen Widersprüchen versöhnen. Jeff VanderMeers Protagonisten lernen erst unter schmerzhafter Überwindung ihrer größten individuellen und kollektiven Ängste, dass Autorität (letztlich ein selbstgewählter Irrweg in den Totalitarismus) kein adäquates Heilmittel gegen unsere tief verwurzelte Furcht sein kann. Akzeptanz des schwer Akzeptierbaren muss nicht zwangsläufig Auslöschung bedeuten, sondern kann als persönliche Grenzüberschreitung ein ebenso sinnvoller wie praktikabler Weg zu kollektiver Heilung und Selbstheilung sein. So muss auch das furchtbesetzte Unbewusste nicht mehr ausgeklammert werden.


Jeff VanderMeer

Unablässig unsere eigenen Vorurteile und festgefügten Denkansätze zu überwinden ist womöglich die größte und wichtigste kulturelle Aufgabe, der wir uns tagtäglich im Beruf wie im Privaten, in der Natur wie in der Kunst immer wieder aufs Neue stellen müssen. Der Dadaist, Psychoanalytiker und Schriftsteller Richard Huelsenbeck (1892-1974) erkannte in einem späten, sehr pointierten Text eine sinnfällige Analogie der Löcher in Schuhen wie in menschlichen Ideen. Diese wie jene seien bei ständigem unbewussten Gebrauch gleichermaßen anfällig dafür, früher oder später Löcher zu bekommen und somit unbrauchbar zu werden. Der konventionelle Mensch lasse es einfach darauf ankommen und benutze sie, bis sie auseinanderfallen und er sie nur noch wegwerfen könne. Der revolutionäre Mensch indessen sehe sich rechtzeitig nach neuen Schuhen respektive neuen tragfähigen Ideen um. Jeff VanderMeer bietet uns nun noch eine dritte Alternative: sich nämlich gänzlich ohne Schuhe oder Ideen auf das Leben einzulassen – mit all seinen positiven Chancen und auch allen unerträglichen Schicksalsfällen zum Trotz. Die Southern-Reach-Trilogie ist somit eine geradezu bewusstseinserweiternde Grenzüberschreitung, in der sich Science Fiction nicht nur als eines der dankbarsten und anspruchsvollsten aktuellen Genres erweist, sondern auch als das ideale Medium, um relevante Themen und Fragestellungen unserer Zeit so zusammenzuführen, dass sie auch für ein breites Publikum annehmbar und nachvollziehbar scheinen. Die schriftstellerische Leistung Jeff VanderMeers kann man kaum hoch genug bewerten.

„Southern Reach Trilogie, Band III: Akzeptanz“, aus dem Amerikanischen von Michael Kellner, erschienen bei Antje Kunstmann, 336 Seiten, € 18,95

Donnerstag, 19. November 2015

„Der Dieb“ von Fuminori Nakamura

In einem von Stephan Krawczyk eindringlich vertonten, anonymen Text aus der Romalyrik („Zigeunerlied“) vernehmen wir die unerbittliche Antwort Gottes auf die ohnmächtige Anklage eines bitterarmen Mannes, der in seinem harten, freudlosen Leben Tag und Nacht vergeblich schuftet, um seine kleine Familie durchzubringen. Trotz größter, unermüdlicher Anstrengungen tritt er buchstäblich auf der Stelle: „Oj Gott, großer Herr, nimm mich oder lass mich leben, siehst du nicht, was du aus uns gemacht? [...] Du bist der große Herr, wie kann ich dir im Wege sein, was stör'n dich meine Kinder?“ – Doch der seltsam unnahbare, ebenso allmächtige wie mitleidlose Gott antwortet mit größter, unbegreiflicher Herzenskälte: „Ich nehm dich nicht, ich lass dich auch nicht leben. Ich möchte nur allmählich dich zu Tode quälen.“


Ein ähnlich freudloses, auf den Leser wie ferngesteuert wirkendes, unerfülltes Leben führt auch der namenlose Protagonist in Fuminori Nakamuras faszinierender Erzählung über einen kleinen Taschendieb in Tokio. Aufgrund seiner über einen Zeitraum von nahezu zwanzig Jahren perfekt austrainierter Fingerfertigkeit und routinierter Menschenkenntnis muss sich dieser zwar keinerlei Sorgen um sein wirtschaftliches Überleben machen. In seinem Selbstverständnis als Diebeskünstler mit festen moralischen Prinzipien, der wie selbstverständlich von anderen nimmt – allerdings ausschließlich von Reichen –, hat er sich sogar stets die naive Fähigkeit bewahrt, noch das wohlig-aufregende Kribbeln während der Tat zu verspüren, das er schon als kleiner Junge empfunden hat, als es ihn – einem unbewussten Impuls folgend – das erste Mal zum Stehlen trieb.

Du kannst ein neues Leben anfangen. Es ist möglich. Vergiss das Klauen, egal ob Essen oder Geld oder sonst was.“
Warum denn?“
Er schaute zu mir hoch.
Weil du sonst nie deinen Platz in der Welt finden wirst.“
Aber...“
Hör auf. Vergiss es einfach.“
Bei dem Leben, das ich führte, war ich zweifellos nicht befugt, einem Kind Ratschläge zu geben.
Hier, das ist für dich.“
Ich hielt ihm eine kleine Schatulle hin.
Was ist das?“
Etwas, was ich nicht brauche. Öffne die Schatulle erst, wenn es dir richtig schlechtgeht, wenn du Kraft brauchst, wenn du denkst, du kannst nicht mehr, und nur noch sterben willst. Ist es nicht toll, so was zu haben?“
Und wenn die mir jemand klaut?“

Eines Abends beobachtet er zufällig in einem Vorstadt-Supermarkt, wie eine Frau, eine Prostituierte augenscheinlich, ihren kaum achtjährigen Sohn auf vollkommen unzulängliche Art und Weise die Zutaten fürs Abendessen zusammenstehlen lässt. Der Protagonist bemerkt, dass der Junge bereits von der Ladendetektivin beobachtet wird und interveniert sogleich uneigennützig und spontan, indem er die von dem kleinen Jungen zusammengetragene Ware an sich nimmt und ganz regulär an der Kasse für ihn bezahlt. Zunächst gegen seinen Willen entwickelt sich in den nächsten Wochen nicht nur eine rührende Freundschaft, in deren Rahmen der erfahrene Dieb den kleinen Jungen unter seine Fittiche nimmt, um ihm seine besten und bewährtesten Tricks beizubringen. Der Protagonist beginnt auch eine sexuelle Beziehung mit dessen Mutter und steckt den beiden immer wieder erhebliche Geldbeträge zu.

Shibuya-Bahnhof, Tokio/Foto: Stéfan Le Du

Doch gerade als er nun fast gegen seinen Willen zum ersten Mal seit vielen Jahren eine Art von Gefühl von Bestimmung und mitmenschlicher Zugehörigkeit spürt, tritt vollkommen unvermittelt die japanische Mafia in sein Leben. Vor vielen Jahren hatte er einmal gemeinsam mit seinem seither spurlos verschwunden Lehrmeister einen dreckigen Handlangerauftrag erledigt, in dessen für die beiden Kleinganoven undurchschaubarem Verlauf ohne ihr eigenes Zutun ein hochrangiges Regierungsmitglied brutal ermordet worden war. Zu seiner eigenen Überraschung hatte der allmächtige Yakuza-Pate ihn damals entkommen und unbehelligt weiterleben lassen. Jetzt allerdings fordert er eine realistischerweise kaum umsetzbare Gegenleistung dafür. Innerhalb einer Woche soll der Protagonist drei überaus komplizierte Taschendiebstähle ausführen. Wenn er nur einen einzigen davon nicht schafft, soll er unverzüglich sterben.

Hast du vergessen? Dass dein Schicksal in meinem Kopf drin ist. Geiles Gefühl! Jedenfalls bleiben dir noch vier Tage. Daran wird sich leider nichts ändern. Menschen wie du enden meistens so. Jetzt pass auf, was ich dir sage: Ob du es schaffst oder nicht, macht für mich kaum einen Unterschied. Ich ändere meine Entscheidungen nie. Wenn du es nicht schaffst, stirbst du. Es gibt noch andere Leute, die zu den gleichen Bedingungen für mich arbeiten. Du bist nur einer von vielen. Nur ein winziger Teil von mir. Was die oben an der Spitze kaum kümmert, ist für die unten eine Sache von Leben oder Tod. So funktioniert die Welt. Und das Allerwichtigste dabei...“

Im Stil einer klassischen Novelle berichtet der Pate dem Protagonisten in einem langen pseudo-philosophischen Monolog ausführlich von einem grausamen Experiment, das ein französischer Adeliger während des Zeitalters des Absolutismus an seinem eigenen Adoptivsohn vollführt habe. Im Verlauf von dessen kaum dreißigjährigem armseligen Leben habe er im unmoralischen Bemühen, sich eine Ahnung göttlicher Allmacht anzueignen, jedes Detail in dessen tragisch verlaufendem Leben von der Adoption im Säuglingsalter bis zu seinem frühen, gewaltsamen und von ihm selbst vollstreckten Tod bis ins kleinste Detail vorausgeplant. Angesichts dieser schrecklichen, nachhaltig deprimierenden Binnenerzählung ahnt der Leser schon früh, dass die Chance für den Protagonisten auf eine erfolgreiche Ausführung seines undurchführbar scheinenden Auftrags sowie auf ein glückliches Ende sehr gering ist.


Fuminori Nakamura/Foto: CurryTime7-24

In der eindringlichen literarischen Thematisierung unseres schicksalhaften Ausgeliefertseins unter die unentrinnbare Allmacht eines unergründlichen monotheistischen Gottesbildes oder dem totalitärem menschlichen Streben, dieses abstrakte theologische Prinzip auf die Gesellschaft oder auf einzelne Individuen innerhalb der Gesellschaft zu übertragen, ist Fuminori Nakamura ein wirklich außergewöhnlicher, ebenso scharfsinniger wie unterhaltsamer philosophischer Noir-Krimi gelungen, über den der Leser noch lange nachgrübeln muss und der den produktiven japanischen Autor (geboren 1977) zu einer der aufregendsten Neuentdeckungen dieses Bücherherbstes macht. Was, wenn wirklich ein großer Unbekannter die Fäden zöge in all unserem irdischen Glück und Unglück? Was, wenn wir wirklich nur Marionetten wären in einem Spiel, das wir von unserem Standpunkt nicht zu durchschauen vermögen? Das lyrische Ich des armen Rom in Stephan Krawczyks Song hat eine bescheidene, menschliche Entgegnung auf diese großen Fragen: „Ich habe eine schöne Frau und vier Kinder. […] Und mehr brauch ich nicht.“ - Es ist vielleicht die einzige mögliche Antwort, zu der wir in unserer menschlichen Unzulänglichkeit fähig sind.

„Der Dieb“, aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg, erschienen bei Diogenes, 211 Seiten, € 22,-

Dienstag, 17. November 2015

„Die späte Reue des Jack Wiseman“ von Ayelet Waldman

Kaum eine der zahlreichen verstandesmäßig kaum zu fassenden und dennoch nur allzu realen Monstrositäten des Nationalsozialismus scheint unwahrscheinlich genug, als dass man den angeblichen Fund eines in einem unterirdischen Schacht verborgenen gepanzerten Zuges bei Breslau nicht für prinzipiell möglich halten könnte, wie es die internationale Presse letzten Sommer nicht wenig reißerisch suggerierte. Denn maßlos sind bis heute nicht nur alle öffentlichen Erwartungen an die bereits bekannten, sondern auch an die möglicherweise erst noch zu entdeckenden Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus.


Die amerikanische Top-Anwältin und Schriftstellerin Ayelet Waldman („Das Buch der bösen Mütter“) hat in ihrem erst kürzlich in deutscher Übersetzung erschienenen historischen Roman „Die späte Reue des Jack Wiseman“ den erstaunlichen Ereignissen und vielfältigen Hintergründen um einen authentischen „Goldzug“ ein literarisches Denkmal gesetzt, der von amerikanischen Truppen in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs bei Salzburg aufgebracht wurde. Streng bewacht von ungarischem Militär, befanden sich in den versiegelten Waggons zahllose, scheinbar wahllos zusammengehortete Kunst- und Gebrauchsgegenstände von zum Teil beträchtlichem Wert, die ungarische Juden vor ihrer Deportation in die Vernichtungslager bei den staatlichen Behörden hatten abgeben müssen. Die amerikanische Armee verbrachte die wertvollen Fundstücke in Lagerhallen, wo sie zunächst penibel geordnet, dokumentiert und katalogisiert wurden. Manche Stücke jedoch wurden zu angeblichen Repräsentationszwecken unverzüglich der Militärverwaltung einverleibt.

Zur Strafe übergab Rigsdale Jack einen M-35-Lastwagen und übertrug ihm das Kommando, den Zug zu entladen. 25 ungarische Kriegsgefangene, ein halbes Dutzend Gis als Wache zum Schutz gegen Plünderer und Schwarzmarkthändler und ein Lastwagen, um 1500 Kisten mit Uhren, Schmuck und Silberwaren abzuladen, 5250 Teppiche, Tausende Mäntel, Stolen und Muffe aus Nerz, Fuchspelz und Hermelin, Kisten mit Mikroskopen und Kameras, Porzellan und Glaswaren, Möbeln, Büchern, Manuskripten und Gobelins, Goldmünzen und -barren, die paar verbleibenden Edelsteine, die liturgischen Gegenstände, die Briefmarkensammlungen und silbernen Haarbürsten, alle wertvollen oder weniger wertvollen Gegenstände, die den Besitz der ungarischen Juden ausgemacht hatten, von denen beinahe auf den Tag genau ein Jahr zuvor im Verlauf von nur 56 Tagen 437.402 Personen nach Auschwitz deportiert worden waren.

Am Anfang von Ayelet Waldmans klug konstruiertem Roman folgen wir zunächst der frisch von ihrem untreuen Ehemann getrennten Protagonistin Natalie ins winterliche Maine unserer Gegenwart, wo sich die Junior-Partnerin eines New Yorker Anwaltsbüros in aller Stille von ihrem im Sterben liegenden geliebten Großvater, dem Titelhelden Jack Wiseman, verabschieden möchte. Wenige Stunden vor seinem Tod bittet sie dieser um einen allerletzten persönlichen Gefallen: den rechtmäßigen Besitzer eines kostbaren goldenen Medaillons ausfindig zu machen, das sie selbst immer für ein Schmuckstück aus dem Besitz ihrer verstorbenen Großmutter gehalten hatte. Tatsächlich aber hatte Jack das kunstvoll gearbeitete Medaillon als verantwortlicher Offizier aus den Beständen des Goldzugs entnommen, weil es ihn an seine unvergessene, unglückliche Liebe zu der ungarischen Jüdin Ilona erinnerte, einer Überlebenden der Konzentrationslager. Jene hatte damals seinen Heiratsantrag ausgeschlagen und stattdessen als Mitglied einer illegalen zionistischen Gruppe den risikoreichen Weg nach Palästina gewählt.

Bewachter Güterzug im Zweiten Weltkrieg

Ein nun unmittelbar einsetzender, von der Autorin konzentriert und fantasievoll ausgearbeiteter erster historischer Erzählstrang beschreibt die authentischen Ereignisse um den ungarischen Goldzug im Salzburg der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dieser Romanteil bildet mit seiner uneitlen, empathischen Erzählweise und seinem individuellen Detailreichtum einen sehr positiven Kontrast zu der in der Gegenwart angesiedelten fortlaufenden Haupterzählebene, in dem die Autorin einen in seiner Manieriertheit zum Teil schwer zu ertragenden amerikanischen Erzählstil im Geiste eines vor allem technisch motivierten „Creative Writing“ pflegt, der zeitweise wie eine ungewollte Parodie seiner selbst wirkt. Insbesondere das genussvoll zelebrierte libidinöse Selbstporträt der Autorin in der Gestalt ihrer Protagonistin im zweiten Teil des Buches gehört zu den peinlichsten Fehlgriffen innerhalb ihres unterhaltsamen Romanes.

Es tut mir leid“, sagte Jack.
Schon wieder diese Entschuldigungen. Was glaubst du denn, Jack? Dass du Hitler bist? Horthy Miklós? Ist es deine Schuld, was mit uns geschehen ist?“
Ihr barscher Ton schockierte ihn. Er konnte bloß sagen: „Wer ist Horthy Miklós?“
Horthy, unser Reichsverweser. Er sollte uns eigentlich beschützen. Er hat uns ermordet, nicht ihr. Ihr habt uns befreit. Es ist nicht deine Schuld, dass meine Familie tot ist. Deine Schuld ist es, dass ich am Leben bin.“

Natalie hat mittlerweile ihren hoch dotierten Job gekündigt und ist allein nach Budapest gereist, um sich dort mit dem israelisch-amerikanischen Kunsthändler Amitai Shasho zu treffen, der sich auf eine besonders lukrative, wenn auch moralisch durchaus diskussionswürdige Art der Wiederbeschaffung von Nazi-Beutekunst spezialisiert hat. Eine kleine Fotografie im Inneren des aufklappbaren Medaillons zeigt eine attraktive zwergwüchsige Frau mit ihrer Freundin vor dem eindeutig identifizierbaren Bildhintergrund des internationalen Frauenstimmrechtskongresses, der im Vorkriegsjahr 1913 in der ungarischen Hauptstadt stattgefunden hatte. Amitai erkennt in einer der beiden Frauen auf dem Foto sofort das auch namentlich bekannte weibliche Modell auf einem verschollenen Gemälde aus den 1920er Jahren, nach dem er bereits seit vielen Jahren fahndet. Nicht uneigennützig beschließt er deshalb, Natalie bei ihrem hoffnungslos scheinenden Vorhaben mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen.


Budapest 1912/Historische Postkarte


Die gemeinsamen Recherchen der beiden, die sich im weiteren Verlauf der Handlung auch persönlich immer näher kommen, bilden das reizvolle thematische Bindeglied zur ebenso aufschlussreichen wie pittoresken zweiten historischen Parallelhandlung, innerhalb der uns Ayelet Waldman – nun scheinbar befreit von ihren hohen literarischen Ambitionen – das wunderbare Panorama einer außergewöhnlichen Freundschaft zwischen zwei selbstbewussten und talentierten jungen Frauen vor uns ausbreitet, die vor dem Hintergrund der in Auflösung begriffenen alten habsburgischen Gesellschaftsordnung vergeblich nach Gleichberechtigung und Selbstbestimmung streben. Vor allem lernen wir Nina kennen, die kaum volljährige, in ihrem kindlichen Eigensinn unwiderstehliche Tochter eines gutsituierten jüdischen Bankiers, die um keinen Preis den Heiratsbestrebungen ihrer Eltern nachgeben will und deshalb „zur Heilung ihrer Hysterie“ von ihrem Vater in eine Psychoanalyse bei dem gutmütigen Ferenczi-Schüler Doktor Zobel gedrängt wird.

Am Ende war der wahre Reichtum der ungarischen Juden nicht in Kisten und Schachteln verpackt und auf diesen Zug verladen worden. Wie viel wert sind zwei Halter für Sabbatkerzen, die einer Tochter von ihrer Mutter und Großmutter überkommen sind, Generation für Generation, hundert, ja tausend Jahre lang? Unbezahlbar, unermesslich. Und wie viel wert sind zehntausend Garnituren ähnlicher Kerzenhalter, wenn all die Großmütter, Mütter, Töchter tot sind? Nicht mehr als das Gewicht des eingeschmolzenen Silbers. Der Reichtum der Juden Ungarns, der Juden Europas, war nicht in den vollbeladenen Güterwaggons des Goldzuges zu finden, sondern in den Großmüttern, Müttern und Töchtern, in den Ärzten und Anwälten, den Getreidehändlern und Psychiatern, den Schriftstellern und Künstlern, die eine Kultur der Verfeinerung geschaffen hatten, der intellektuellen und künstlerischen Leistungen. Und dieser Reichtum, alles von wirklichem Wert, war so gut wie ausgelöscht.

In den Kaffeehäusern der Metropole, in denen nicht nur das gesamte Who's Who der Literatur- und Kunstszene der Metropole verkehrt, sondern auch die unterschiedlichsten politischen Kräfte tagtäglich ein- und ausgehen, trifft Nina eines Nachmittags auf die enigmatische zwergwüchsige Gizella, Privatsekretärin der berühmten ungarischen Feministin Rózsa Schwimmer, und freundet sich leidenschaftlich mit ihr an. Eine aus dem Ruder laufende anarchistisch motivierte Aktion im ehrwürdigen Opernhaus führt schließlich zu einem handfesten politischen Skandal, in dessen Folge die beiden mutigen Frauen vor der Polizei fliehen und untertauchen müssen. Die Geschichte der beiden ungleichen, auf dem Foto in der Innenseite des Medaillons verewigten Freundinnen, deren Spur sich später in der Schoah verliert, führt Natalie und Amitai schließlich auf unerwartete Art und Weise zum größten Abenteuer ihres Lebens.


Ayelet Waldman/Foto: Reenie Raschke


Trotz ihres zum Teil übertriebenen schriftstellerischen Ehrgeizes ist der Autorin ein ebenso erfrischender wie kenntnisreicher erzählerischer Bogen geflückt, der scheinbar mühelos ein ganzes Jahrhundert jüdischen Lebens in Europa und Amerika zu überbrücken vermag und dabei zahlreiche hoch interessante und dankbare historische Themenstellungen in der Vorstellung des Lesers zum Klingen bringt, die der breiteren Öffentlichkeit heute kaum noch bekannt oder bewusst sein dürften. Aus dieser Perspektive ist „Die späte Reue des Jack Wiseman“ eine äußerst unterhaltsame, gut recherchierte und ausgesprochen nützliche literarische Einführung in einige der interessantesten Nebenschauplätze innerhalb der erschütternden Umwälzungen des Zwanzigsten Jahrhunderts, die die willkommene Tatsache umso wunderbarer erscheinen lassen, dass eine detektivische Odyssee durch Osteuropa, wie sie die Autorin so kenntnisreich beschreibt, im heutigen Europa nach vielen bitteren Jahrzehnten der Trennung endlich wieder möglich ist.

„Die späte Reue des Jack Wiseman“, aus dem Amerikanischen von Brigitte Hilzensauer, erschienen bei Zsolnay, 478 Seiten, € 22,90