Jerusalem

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Donnerstag, 24. März 2016

Die Blumen für die Opfer

Schwer zu sagen, was nach den Brüsseler Anschlägen am Dienstag an der ins Pflaster eingelassenen Windrose in der Fußgängerzone einer deutschen Großstadt zuerst da war: die Blumen für die Opfer von Brüssel oder – in der entgegengesetzten Richtung, kaum zwei Meter davon entfernt – die Blumen für die Opfer von Damaskus. Und während die bemerkenswert gefühlskalte Frauke Petry denjenigen, die sich öffentlich mit den Opfern solidarisieren, Heuchelei vorwirft, hat die Bildzeitung endlich, nach zwei Tagen Suche eine tragische Geschichte von deutschen Opfern für ihre Titelseite gefunden, als wäre es nur dann möglich, Mitgefühl zu empfinden, wenn auch Deutsche unter den Opfern sind. Es ist augenfällig, dass es unserer Gesellschaft bislang nicht gelungen ist, einen geeigneten öffentlichen Raum zu schaffen, in dem wir dem ganzen Spektrum unserer Gefühle und Gedanken zwischen Ratlosigkeit, Panik und Trauer angemessen Ausdruck verleihen könnten, ohne dafür beurteilt oder sogar persönlich angegriffen zu werden.

"Windrose"/Foto: Bernd Schwabe

Gibt es eine „richtige Art“ zu trauern? Allein die Formulierung einer solchen Frage offenbart nicht nur eine tiefe Verunsicherung, sondern auch ein zunehmendes Unvermögen des Individuums, seinen eigenen Standpunkt frei zu bestimmen. Dass angesichts von scheinbar wahllos zuschlagendem Terror der Wunsch nach Ordnung im eigenen Gefühlshaushalt groß ist, scheint verständlich. Zur Zeit muss man allerdings den Eindruck gewinnen, dass in Teilen unserer Gesellschaft eine viel umfassendere und viel tiefer sitzende Verunsicherung vorhanden zu sein scheint als wir uns einzugestehen bereit sind. Viele Menschen wünschen sich klare Worte und entschiedenes Handeln. Gewissenlose Populisten wie Frau Petry wissen und spüren das – sie nützen es aus, denn es ist ihre Chance, ihren eigenen inneren Führerstaat in der realen Welt zu verwirklichen. Müssen wir angesichts der wachsenden Uneinigkeit der Mitgliedsstaaten der EU und den flächendeckenden Erfolgen rechtspopulistischer Parteien wirklich eine Renaissance des Nationalstaats befürchten?

Der Wunsch nach Abgrenzung oder besser: Abspaltung beruht auf einer umfassenden kulturellen Verdrängung. Faschismus und Kommunismus haben uns im Verlauf des Zwanzigsten Jahrhunderts eine stark vereinfachte Weltsicht vermittelt, die den Einzelnen nicht nur von einem großen Teil seiner natürlichen Verantwortung und vielen Rechten und Pflichten befreit hat, sondern auch von seiner persönlichen Freiheit als menschliches Individuum. Im Gegenzug hat der Einzelne neben zahlreichen Sozialleistungen und sonstigen staatlichen Vergünstigungen, die ihn von manchen alltäglichen Sorgen befreiten, auch eine fadenscheinige Sicherheit bekommen: die trügerische Gewissheit, was nach Meinung der Partei richtig und falsch, gut und böse ist. Trügerisch war diese Sicherheit nicht nur deshalb, weil sie den Menschen bei vollem Bewusstsein in einen unreifen, kindischen Zustand zurückversetzte, sondern auch, weil sie von der Partei stets nach eigenem Belieben willkürlich verändert werden konnte.


Grenzzaun zwischen Ungarn und Serbien/Foto: Bör Benedek

Wenn wir heute über multiethnische und multikulturelle historische Staatsgebilde wie das Römische oder das Osmanische oder auch das Reich der Habsburger reden, übernehmen wir erstaunlich oft weitgehend unkritisch die Sicht des Nationalstaats des Neunzehnten oder Zwanzigsten Jahrhunderts, der natürlich vor allem die angebliche Unterdrückung der kulturellen Identitäten der unterschiedlichen Volksgruppen innerhalb dieser Staaten brandmarkte. Die Überwindung der Gleichheit vor dem Gesetz der verschiedenen Volks- oder Religionsgruppen zugunsten einer einzelnen dominanten wurde als höchstes Ziel ausgegeben. Dabei hatten die genannten Staaten jeweils über mehrere Jahrhunderte Bestand, Römer und Osmanen hatten den von ihnen unterworfenen Völkern sogar umfangreiche Freiheiten und Instrumente der Selbstverwaltung gewährt. Die Schaffung der „modernen“ Türkei aus dem anatolischen Rumpfgebiet des Osmanischen Reiches ist möglicherweise ein besonders gutes Beispiel dafür, welche neuen Probleme die künstliche Schaffung einer Nation aus den interkulturell vielfach miteinander verstrickten Volksgruppen (Türken, Armenier, Griechen, Kurden) verursachen kann.

Doch auch in Osteuropa haben Polen, Ukrainer, Deutsche, Ungarn, Slowaken, Rumänen und Juden über viele Jahrhunderte in unterschiedlichsten Staaten friedlich zusammengelebt, bevor der aufkommende Nationalismus und seine beiden schlimmsten kriegerischen Entgleisungen ihre zum Teil äußerst fruchtbare Koexistenz endgültig beendete. Die Koexistenz vieler unterschiedlicher Volksgruppen innerhalb eines funktionierenden Staates ist aber eine vollkommen natürliche und organische, kaum vermeidbare Entwicklung. Der freie, selbstbestimmte Mensch möchte in Frieden leben, aber er möchte auch in einem Staat leben, in dem er etwas bewirken kann, dementsprechend wird er sich seinen Aufenthaltsort aussuchen. Ein wesentlicher Konflikt ergibt sich nun offensichtlich aus der unausgesprochenen Vorbedingung derjenigen, die erwarten, dass etwas für sie bewirkt wird, ohne dass sie selbst handeln müssen. Diese Prämisse aber entspricht der unreifen Weltsicht des Bürgers einer faschistischen oder kommunistischen Diktatur.


Sondermarke (1994)


Der Nationalstaat, den die AfD und andere rechte Kräfte scheinbar reaktivieren möchten, ist weder eine erstrebenswerte Option noch entspricht er in den parlamentarischen Demokratien Westeuropas den realen demographischen Gegebenheiten. Er ist die reflexhafte Flucht in die unrichtige Wunschvorstellung, dass Separation und Isolation Probleme lösen. Das Gegenteil ist richtig: es scheint schon jetzt erwiesen, dass die Attentäter von Brüssel und Paris gerade dort ein Zeichen setzen wollten, wo sie sich ausgegrenzt, unverstanden und isoliert fühlten. Lösen lassen sich Probleme, indem man aufeinander zugeht und miteinander spricht. Die Philosophie der Trennung verleitet uns zu der falschen Vorstellung, dass der Bürgerkrieg in Syrien und die von dort ausgehende Flüchtlingsbewegung nichts mit uns zu tun haben. Wir müssen aber begreifen, dass die Opfer von Damaskus genauso viel oder genauso wenig mit uns zu tun haben wie die Opfer in Brüssel. Nur ein handlungsfähiger, integrer und integrativer Staat, der für die unterschiedlichen kulturellen Strömungen innerhalb seiner Bevölkerung gleichermaßen attraktiv ist, kann dem Terror etwas entgegensetzen.

„Pici“ – ein Gespräch mit Robert Scheer über sein neues Buch und den Leidensweg seiner Großmutter unter deutscher Verfolgung


Im Herbst 2012 durfte ich für den renommierten Hanser-Verlag im Rahmen der alljährlichen Veranstaltungsreihe „Open Books“ anlässlich der Frankfurter Buchmesse das literarische Debüt des Tübinger Schriftstellers Robert Scheer (geboren 1973) vorstellen. In seinem hoch originellen ersten Buch „Der Duft des Sussita“ hatte der im rumänischen Carei geborene und in Israel aufgewachsene studierte Philosoph mit seinen satirischen Erzählungen unerwartete Erinnerungen an den jungen „politischen“ Ephraim Kishon geweckt.

Seine ebenso humorvollen wie doppelbödigen und tiefgründigen Texte überraschten dabei vor allem mit ihrem unverbrauchten, selbstbewussten Ton, ihrem  unverkrampften, aber dennoch äußerst entschiedenen literarischen Anspruch und ihrem unabhängigen Blickwinkel – drei wesentliche Eigenschaften, die sie nicht nur formal, sondern auch inhaltlich weit über das herausheben, was Verlage uns sonst oft als vielversprechende junge Literatur präsentieren. Robert Scheers Texte stecken voller Überraschungen – selbst Lothar Matthäus hat bei ihm ausnahmsweise mal alle Lacher auf seiner Seite. 


Robert Scheer


Ich bin Robert Scheer sehr dankbar für das Vertrauen, dass ich sein neues Buch „Pici“ bereits vor seinem offiziellen Veröffentlichungstermin lesen durfte. Auch sein neuer Text, eigentlich eine Übersetzung aus dem Ungarischen, stellt eine Überraschung dar, mit der man nicht unbedingt rechnen konnte. Es ist der autobiographische Bericht seiner Großmutter Elisabeth (genannt „Pici“) Meisels (1924-2015) über ihre Verfolgung durch Nazi-Deutschland, die der Autor als sehr persönliches Zwiegespräch zwischen seiner Großmutter und ihm selbst gestaltet hat .

Diese meines Wissens im Genre der Erinnerungsliteratur bisher nicht dagewesene Konstellation hat mich in ihrer liebevollen familiären Unmittelbarkeit regelrecht begeistert, weil es ihr auf erfrischende Art und Weise mühelos gelingt, die Vergangenheit mit der Gegenwart in lebendige Beziehung zu setzen. So eröffnen sich zwischen den Zeilen zahlreiche ganz neue Sichtweisen, die auch viel über das Vehältnis zwischen den Generationen verraten und das Buch zu einem besonders geglückten Beispiel bewusster Zeitzeugenschaft machen. Anlässlich der Leipziger Buchmesse hatte ich Gelegenheit, mit Robert Scheer über sein neues Buch zu sprechen.
 
FH: Deine Großmutter Pici stand an der Schwelle zum Erwachsensein, als sie durch die Nationalsozialisten aus einem sehr liebevollen Familienleben herausgerissen und mit ihrer gesamten Familie nach Auschwitz deportiert wurde. Anstatt ein eigenes selbstbestimmtes Leben in ihrer transsilvanischen Heimat beginnen zu können, wurde sie gewaltsam von allem getrennt, was ihr etwas bedeutete, und musste auf ihrem Weg durch die deutsche Vernichtungsmaschinerie schlimmste Traumata und Verluste erleiden. Obwohl ihre ganze Familie von den Nazis ermordet wurde, fand sie nach ihrer Befreiung die Kraft, eine Familie zu gründen und ein lebensbejahendes Leben zu führen. Mit der Herausgabe ihrer Erinnerungen in Buchform ist nun ein Herzensprojekt von Dir abgeschlossen, dem Du in den letzten Jahren sehr viel Aufmerksamkeit, Kraft und Liebe gewidmet hast. Mit welchen Gedanken und welchen Gefühlen blickst Du auf diese Zeit zurück?

RS: Ja, meine Großmutter hat ihre ganze Familie im Holocaust verloren. Auf dem Weg nach Hause, im Zug, hat sie meinen Opa kennengelernt. Seine Frau und sein kleiner Sohn waren ebenfalls von den Nazis ermordet worden. Mein Opa war dreizehn Jahre älter als Pici. Er starb 2007, mit 96 Jahren. Es war eine interessante Erfahrung, an dem Buch zu arbeiten. Obwohl Pici mir seit meiner Kindheit immer wieder über die Schoah und ihre Familie erzählt hatte, war es eine vollkommen neue Erfahrung, ihre Familie auf diese Weise kennen zu lernen. Sie, die Ermordeten, waren ja auch meine Familie, die ich nie persönlich kennengelernt habe, aber unter anderen Umständen ohne Zweifel kennengelernt hätte. Ich konnte sie mir aber mit Picis präzisen Beschreibungen gut vorstellen. Ich konnte die damalige Zeit fast „riechen“. So war meine „verlorene“ Familie plötzlich gar nicht mehr abstrakt, sondern ganz konkret, geradezu plastisch. Die Gestalten wurden lebendig. Deshalb liest sich das Buch auch fast wie ein Roman, obwohl es von nichts anderem als der Wirklichkeit erzählt. Und die Wirklichkeit ist unglaublich! Zum Beispiel: Picis geliebter, zwei Jahre jüngerer, Bruder, Béluska, starb am 25. Dezember 1944 im KZ Mauthausen. Mein Vater, also Picis Sohn, Ivan, wurde genau an diesem Tag – am 25. Dezember – zwei Jahre später geboren. Wenn ein Romancier sich so etwas ausdenken würde, müsste man ihm eine unglaubwürdige Konstruktion vorwerfen. Aber so ist das Leben! Das Leben ist manchmal viel „fiktiver” als jede Art von Fiktion. Die Wirklichkeit kann unglaublich sein! Und noch etwas: Weihnachten 2015 ist mein Manuskript vom Verlag Marta Press auf Anhieb angenommen worden, ebenfalls am 25. Dezember! Erst wenige Tage zuvor hatte ich mein Manuskript dort eingereicht. Es schien so, als hätte Pici ihre unsichtbare Hände im Spiel gehabt. Auf jeden Fall bin ich sehr froh, dass alles gut geklappt hat und das Wichtigste: Pici wäre damit glücklich gewesen. Deswegen bin ich auch glücklich!

FH: Das klingt, als wäre Dir die Arbeit am Manuskript nicht schwer gefallen…

RS: Nein, nein! Es fiel mir sogar äußerst schwer, über Monate an diesem sehr persönlichen Text zu arbeiten. Niemals habe ich mehr als eine Seite pro Tag geschafft. Aber nicht aus Arbeitsökonomie wie Thomas Mann, sondern weil mein Seelenhaushalt es brauchte. Ich gebe zu: ab und zu wurden meine Augen nass. Es war nicht immer einfach, das Buch fertig zu stellen. Ich denke, die Arbeit daran war eine der schwierigsten Aufgaben, die ich in meinem Leben bisher bewältigen musste. Auf jeden Fall war es der schwierigste Text, den ich je geschrieben habe. Und dabei habe ich ihn nicht einmal selbst geschrieben – vielleicht deswegen. Es dauerte viele Monate, bis ich mit der Übersetzung aus dem Ungarischen fertig war, und weil ich kein Übersetzter bin, klang alles ein wenig wie Herta Müller. (Lacht.) Es war Deutsch, aber es klang ein wenig fremd. Mir war klar, dass noch viel Arbeit investiert werden müsste, von mir, von einem zukünftigen Verlag, vom Lektorat. Das war mir bewusst. Aber als Pici dann gestorben ist, beschloss ich zu handeln und das Manuskript Verlagen anzubieten.




FH: Pici ist im vergangenen Jahr im Alter von einundneunzig Jahren verstorben. Die Annahme des Manuskripts erfolgte also erst nach ihrem Tod. Hast Du Deine Großmutter, die Du im wahren Leben gerade erst verloren hattest, seither noch einmal auf andere Art und Weise kennengelernt oder etwas Neues über sie oder über Dich selbst erfahren?

RS: Ich habe viele Details erfahren. Ich wusste, dass sie in Auschwitz war, aber im Buch erzählt sie über viele andere Konzentrationslager, von denen ich bis dahin noch nicht gehört hatte, und von Frauen, mit denen sie dort eingesperrt war. Ihr Leben wird so anschaulicher, greifbarer. Dass sie viele Grausamkeiten erleben musste, wusste ich, aber welche genau – das habe ich erst mit dem Buch erfahren. Und auch über ihre erste Liebe. Pici redet im Buch offen über alles, was sie damals und später bewegte. Man kann viel über ihre Generation lernen, über ihre Moral, Sitten usw. Es waren andere Zeiten als die heutigen, aber so fremd wirken diese Menschen nicht. Menschen sind eben Menschen: es gab schon immer gute und schlechte Menschen, Dumme und Kluge. Insbesondere gab es immer schon eine Mischung aus guten und schlechten, dummen und klugen Menschen. Die Zeit des Nationalsozialismus ist natürlich ein Extremfall, der uns tief in die verborgensten Abgründe des Menschseins blicken lässt. Die Schoah war vielleicht der tiefste Abgrund der bisherigen menschlichen Geschichte, aber Abgründe wie dieser können sich immer wieder auftun. Was Pici erleben musste, war die Hölle auf Erden. Menschen, die nicht erlebt haben, was sie erleben musste, können in ihrem Zeugnis das höchste Maß der Unmenschlichkeit veraunschaulicht bekommen. Und diejenigen, die diese Grausamkeiten begingen, waren Menschen. Der Mensch kann, wie das Buch zeigt, ein äußerst gefährliches Tier sein oder, wenn man so will, ein Engel des Todes und der Zerstörung. Dieses Buch zeigt beides: Menschlichkeit und Unmenschlichkeit. Die Bezeichnung „der Mensch” ist vom Grundsatz her ja vollkommen neutral, ein abstrakter Begriff. Erst mit seinen Handlungen zeigt der Mensch sein wahres Gesicht. Und die Gesichter vieler Menschen, die Pici während der Zeit ihrer Verfolgung kennenlernen musste, waren eben keine schönen Gesichter. Die Nazis haben Pici nicht als Menschen betrachtet, und dies gehört zur Tragödie des Menschen: wenn einer den anderen nicht als gleichwertig betrachtet. So etwas kann nie gut enden.

FH: Gibt es eine bestimmte Szene in Picis Erinnerungen, die Dich besonders beeindruckt hat? Mir hat besonders imponiert, wie sie und ihre Schwestern während ihres Aufenthalts im Frankfurter Konzentrationslager Walldorf etwa die Waschtage zu genießen vermochten oder die frische Luft im Wald auf dem Weg zur Zwangsarbeit. Ingsgesamt hat mich beeindruckt, dass Pici ihre Erlebnisse aus der Perspektive eines Menschen beschreibt, der überlebt und mit wachen Sinnen das ganze Zwanzigste Jahrhundert erlebt und auch innerlich verarbeitet hat. Als ein aufgeklärter, denkender Mensch des 21. Jahrhunderts, der in der Lage dazu ist, auch Vergleiche zwischen gestern und heute zu ziehen.

RS: Eine weitere erschütternde Szene, die man niemals hätte erfinden können, hat sich ebenfalls in Walldorf zugetragen: fünfzig Häftlingsfrauen wurden auf der Ladefläche eines LKW in den Wald gefahren. Plötzlich stoppt der Wagen mitten im dichten Wald, und die Frauen müssen absteigen. Der SS-Fahrer und die Lageraufseherin verschwinden im Gebüsch und haben Sex miteinander. Fünfzig „Stück” Frauen müssen den beiden dabei zusehen – „Stück“, so haben sie sie wirklich genannt, wenn sie sie „angefordert“ haben. Daran kann man erkennen, dass sie sie nicht als Menschen betrachtet haben. Diese fünfzig unglückseligen, kahlköpfigen, unterernährten Frauen standen da und beobachteten diese Frau und diesen Mann in ihren intimen Momenten und schämten sich unendlich dabei. Zur Schau gestellte Sexualität hatte damals ja in der Öffentlichkeit nichts zu suchen. Schon gar nicht im „sauberen“ deutschen Reich. Für die beiden Deutschen waren diese armseligen, bedauernswerten Kreaturen, die da standen und warteten, bis sie fertig waren, weniger wert als Tiere. Das ist genau das, was Pici in diesem Moment realisierte und ihren Schwestern mitteilte: „Sie betrachten uns nicht als Menschen!” 

Auschwitz/Foto: Pimke

FH: Warum ist es wichtig, einen weiteren Zeitzeugenbericht über die Zeit des Nationalsozialismus zu veröffentlichen?

RS: Die Generation meiner Großmutter stirbt langsam, aber sicher aus. Es gibt nicht mehr viele Überlebende, die noch selbst ihre Geschichte erzählen können. Aber die Geschichten der Opfer des Nationalsozialismus sollten auf jeden Fall bewahrt werden – nicht nur die der Überlebenden, sondern auch die der vielen Millionen von Toten, die von den Nationalsozialisten zum Schweigen gebracht wurden. Wir müssen von ihnen berichten. Denn ohne Vergangenheit gibt es ja keine Zukunft. Nur wenn wir von der Vergangenheit lernen, können wir auf eine gute und sichere Zukunft hoffen. Dies scheint mir heutzutage das Problem zu sein, nämlich dass wir aus den Fehlern der Vergangenheit nur wenig gelernt zu haben scheinen. Viele Menschen denken wie selbstverständlich, dass sie wesentliche Lehren aus dem Nationalsozialismus verinnerlicht haben. Aber leider ist das meistens nicht der Fall. Die Menschen erweisen sich in den meisten Fällen angesichts gegenwärtiger Herausforderungen als äußerst unwissend, leider. Dieser Bericht ist ein Dokument gegen die allgemeine Gleichgültigkeit und die Verdummung. Ich meine, ja, wir sollten von der Vergangenheit lernen. Und ich freue mich insbesondere für die jungen Leute, die Interesse an diesem Buch haben. Es hat mich wirklich überrascht, dass die jüngere Generation so einen Wissendurst hat und das Buch unbedingt lesen möchte. Aus dieser Beobachtung heraus habe ich mich auch auf andere Art und Weise mit Picis Lebensweg auseinandergesetzt: ich habe ein langes Poem in sehr einfacher und konzentrierter Sprache darüber geschrieben, um insbesondere Lehrern und Schülern eine Gelegenheit anzubieten, sich mit diesem Thema in unmittelbarerer Form auseinanderzusetzen, als es sonst gemeinhin möglich ist.

FH: Das klingt interessant! Gibt es schon einen Verlag?

RS: Nein, leider hat sich bislang noch niemand gefunden, der das Poem veröffentlichen möchte. Lyrik ist ein sehr kompliziertes Thema auf dem deutschen Buchmarkt, es gehört viel Idealismus dazu, nicht nur als Autor, sondern auch als Verlag. Das Poem über Pici ist also in vielfacher Hinsicht idealistisch! Letztlich erzählt es dieselbe Geschichte wie dieses Buch, nur in anderer, für den Unterricht möglicherweise geeigneterer und prägnanterer Form. Um auf die vorherige Frage zurückzukommen: Man sollte trotz allem, was die Menschen offenbar daran hindert, aus ihrer Vergangenheit zu lernen, nicht allzu pessimistisch sein – dennoch muss man natürlich stets darauf bedacht sein, Zeichen gegen die Dummheit zu setzten. Das Kaufen dieses Buches ist zweifellos so ein Zeichen! Und die Lektüre natürlich…

FH: Beim Lesen von Picis Erinnerungen fällt auf, dass sie erst im letzten Drittel des Buches von ihrem traumatischen Weg durch die grausame Vernichtungsmaschinerie der Nazis berichtet. Wie wichtig war es Dir bei der Textredaktion, zunächst eine ausführliche Vergegenwärtigung ihres friedlichen, prägenden Lebens vor der Verfolgung zu schaffen, eines liebevollen, behüteten Lebens in Freiheit „so wie es sein sollte“?

RS: Der Hintergrund für das, was später passieren wird, ist ausgesprochen wichtig. Wie gesagt, das Buch liest sich wie ein Roman. Dennoch ist das Buch auch sachlich. Man kann einiges über das Leben einer durchschnittlichen jüdischen Familie im multikulturell geprägten Transsilvanien der 1930er und 40er Jahre lernen. Picis Vater ist Holzhändler. Das Land, in dem seine Familie lebt, heißt seit Ende des Ersten Weltkriegs nicht mehr Österreich-Ungarn, sondern Rumänien. Und nur wenig später wird es Ungarn heißen. Bildlich gesprochen: Man hat das Haus und den eigenen Vorgarten nicht ein einziges Mal verlassen, doch während man isst und trinkt, liebt und lebt, hat sich innerhalb kürzester Zeit dreimal die nationale Zugehörigkeit geändert. Es ist ein typisch europäisches Phänomen – aber nicht nur.
Man lernt zahlreiche unterschiedliche Völkergruppen kennenlernen, zum Beispiel Rumänen und Ungarn, die sich gegenseitig zutiefst verachten, obwohl sie zwischenzeitlich weitgehend friedlich zusammengelebt oder wenigstens nebeneinander hergelebt haben. Bis heute hat sich an ihrer gegenseitigen Verachtung nicht viel geändert. Die Mentalität eines Menschen oder einer Gruppe ändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, nicht einmal von einer Generation zur nächsten. Das kann man besonders gut beobachten, wenn man die Einstellung mancher Menschen zur aktuellen Flüchtlingswelle betrachtet. Die größten Vorbehalte gegenüber Flüchtlingen beobachten wir zweifellos in den ehemals kommunistischen Ländern, aber nicht nur dort. Auch hier fühlen sich viele Menschen vom „Anderen” bedroht. Und das obwohl sie den Anderen oder das Andere nicht einmal kennen. Auch in Japan war es mal so: sie haben Juden gehasst, obwohl es dort gar keine Juden gab. Das Allereinfachste ist es nämlich, Menschen gegen andere, schwächere Menschen aufzuhetzten. Es ist die klassische Instrumentalisierung des Fremden als Sündenbock, wenn man Schwierigkeiten damit hat, beim Blick in den Spiegel die Probleme bei sich selbst zu erkennen. Dafür braucht man nämlich Selbstbewusstsein und zwar wirkliches, echtes. Und das kommt nicht von einem Tag auf den anderen, sondern ist das Ergebnis eines ständigen, bewussten Lernprozesses. In der heutigen, schnelllebigen Welt ist es aber viel einfacher nicht zu lernen, nicht selbstbewusst zu sein. Die hochentwickelte Technologie und die mit ihrer kommerziellen Nutzung einhergehende Reizüberflütung und Überinformation überfordert viele Menschen. Man möchte einfache Antworten. Solche gibt es aber meistens nicht, denn trotz unseres rapiden technischen Fortschritts ist die menschliche Persönlichkeit kaum nennenswerter Veränderung unterworfen, das heißt, die Vernunft ist nur ein winziger Teil des menschlichen Daseins. Wir sind komplexe Wesen voller unauflösbarer Widersprüche. Und genau diese Tatsache können viele Menschen nicht ertragen: sie wollen etwas vereinfachen, was nicht einfach ist. 


Robert Scheer: "Alles im Fluss"

FH: In ihrem Nachwort sagt die Verlegerin Jana Reich etwas sehr Wichtiges: dass ihr Pici im Verlauf der Arbeit am Text regelrecht ans Herz gewachsen sei. Zunächst habe sie aber recherchiert, ob es sich bei ihrem Bericht tatsächlich um authentische Erinnerungen einer realen Zeitzeugin handele. Sind Empathie und ein kritischer Verstand die wichtigsten Eigenschaften, um sich mit Picis Geschichte auseinanderzusetzen? Wie wichtig sind diese Eigenschaften in der Gegenwart?

RS: Gefühl und Verstand miteinander im Gleichgewicht zu haben und zu halten, ist nicht einfach. Es gibt Menschen mit viel Gefühl, aber wenig Verstand und es gibt Menschen mit viel Verstand, aber wenig Gefühl. Die Menschen mit überwiegend „objektiven Eigenschaften” verstehen die Menschen mit überwiegend „subjektiven Eigenschaften” nur wenig, und umgekehrt verhält es sich genauso. Das Problem wird aber noch größer, wenn man entdeckt, dass es sich dabei nicht um irgendwelche fremde Menschen aus der Außenwelt handelt, sondern um sich selbst. Hier kommen die Philosophien der Subjektivität zum Tragen, die aber eigentlich uninteressant sind. Was ich meine, ist, dass man sich einfach fragen sollte, was einem näher steht: das „Wie“ oder das „Was“. Das „Wie“ ist ein nicht voraussagbarer offener Prozess, in dem man aber etwas anstoßen und bewegen kann. Das „Was“ bedeutet keinerlei Bewegung; es heißt, dass die dingliche Welt die Menschen bestimmt. Diese zweite Möglichkeit ist faktisch identisch mit der gefährlichen, aber ich gebe zu: nicht uninteressanten Methode der maoistisch-kommunistischen und faschistischen Philosophie. Platon, Heidegger und Sartre gehörten diesem Dogma der Ontologie an, und Sloterdijk gehört ihm ebenfalls an, um auch einen zeitgenössischen Philosophen zu nennen. Das „Wie“ der sogenannten Epistemologie ist ein offener Prozess, und deswegen bleibt er für viele unattraktiv und subjektiv. Meinem Verständnis nach sind Empathie und kritischer Verstand keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille.

FH: Was bedeutet das konkret?

RS: Mein Buch ist ein Generationengespräch zwischen einer Großmutter und ihrem Enkelkind – über Familie und Liebe, Hass und Wahnsinn und nicht zuletzt – über Hoffnung. Es ist ein Plädoyer für Vielfalt und Offenheit. Viele Menschen wollen sich verschließen, und die Viefalt wird von ihnen als bedrohlich betrachtet. Sie macht ihnen Furcht, und sie empfinden sie als undenkbar. Hier will und muss ich klar Partei für eine Atmosphäre von Offenheit und Vielfalt ergreifen, die ich ja schützen und erhalten möchte. Denn es gibt keinen Weg, in dieser Frage neutral zu bleiben. Enweder ist man für einen kleinen isolierten Teil oder für das Ganze. Ich bin für das Ganze und möchte auch kein Geheimnis daraus machen. Ein Künstler kann nur jemand sein, der nach einem höheren, besseren, möglicherweise unerreichbaren Ziel strebt. Wer sich bedingungslos mit dem Bestehenden arrangiert, ist kein Künstler, kann niemals ein wahrer Künstler sein.
Denn ein wahrer Künstler ist niemals Nationalist, sondern Universalist und Weltbürger. Er ist außerdem Pazifist. Und er ist agnostisch. Und außerdem ist er Humanist. Diese wesentlichen weltanschaulichen Eigenschaften eines Künstlers hat der jüdische Philosoph Jeschajahu Leibowitz einmal gleichsam von außen sehr scharfsinnig analysiert und benannt, aber mit anderen sprachlichen Begrifflichkeiten. Ich sage bewusst „von außen“, weil er sich zu keiner dieser Eigenschaften bekannt hat – denn er war kein Pazifist, sondern glaubte an das Judentum. Leibowitz war Gnostiker, denn er glaubte an den jüdischen Gott. Aus diesem Grund war er auch kein Humanist und auch kein Anarchist. Der Unterschied zwischen Leibowitz und einem x-beliebigen ignoranten Zeitgenossen ist, dass er sich als Philosoph dieser Tatsache bewusst war. Man trifft im Leben zahlreiche Menschen, die anders denken als man selbst, aber ein Dialog mit ihnen ist dennoch möglich. Man muss nicht der gleichen Meinung sein, denn Werte sind subjektiv. Dies aber zu begreifen und umzusetzen, ist allerdings eine sehr schwierige Sache... 


Grenzwall zwischen Israel und Palästina/Foto: Aldo Ardetti


FH: Wenn man aktuelle reaktionäre politische Bewegungen in ganz Europa oder auch in den USA näher analysiert, fällt auf, dass man den meisten ihrer Anhänger einen erheblichen Mangel an Empathie bei gleichzeitigem Verharren auf zum Teil irrationalen Grundsätzen bescheinigen muss. Die AfD möchte laut eigenem Parteiprogramm die „zwölf Unglücksjahre“ des Nationalsozialismus, die mit ihren 80 Millionen Toten in Wirklichkeit Unglück für mindestens 1000 Jahre bedeuten, im Schulunterricht weniger ausführlich behandeln als bisher. Ist es nicht zum Verzweifeln, gleichzeitig mit der Veröffentlichung von Picis Erinnerungen revisionistische Bewegungen auf der ganzen Welt wachsen zu sehen? 

RS: Es ist leider so. Dabei ist die derzeitige Situation in Deutschland noch wesentlich besser als in vielen anderen Ländern. In Polen, in der Türkei, in Ungarn oder in Israel regieren zur Zeit rechtspopulistische Parteien. Für sie geht es nicht um Menschen und menschliche Werte im Allgemeinen, sondern um Polen, Türken, Ungarn oder Israelis. Israelische Juden, besser gesagt, denn in Israel genießen nur Juden die vollen Bürgerrechte. Diese Parteien und ihre Anhänger sind keine Humanisten und ganz sicher keine Pazifisten. Sie glauben an gefährliche Begriffe wie „Volk“, „Blut“ und „Vaterland“ – und das nach all dem, was in der jüngeren Geschichte passiert ist, wovon auch mein Buch erzählt!

FH: Aber Israel ist doch als großer Schmelztiegel bekannt, der Juden aus den verschiedensten Ländern aufgenommen und integriert hat. Viele Juden aus aller Welt sind nach Israel ausgewandert, um dort in Frieden leben zu können.

RS: Israel ist ein besonders gutes Beispiel, weil die Realität dort vollkommen anders aussieht als zionstische und linke Idealisten sie sich ursprünglich vorgestellt haben. Man hört oft Wörter wie „Frieden“ oder „Friedensprozess“ im Zusammenhang mit dem Jahrzehnte währenden Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Aber was heißt Frieden? Für die Israelis hat das Wort „Frieden“ mindestens zwei unterschiedliche Bedeutungen: für die sogenannten „Linken“ ist damit die von ihnen selbst vorgeschlagene territoriale Aufspaltung in zwei unabhängige Nationalstaaten gemeint, für die es aber in Israel keine politische Mehrheit gibt. Die herrschenden, rechten Parteien bevorzugen eine Schritt-für-Schritt-Lösung. Das bedeutet aber konkret: nur wenn die Palästinenser sich an Vereinbarungen halten, bekommen sie auch etwas dafür. Wenn sie sich nicht daran halten, kriegen sie auch nichts. Diesen scheinheiligen Schritt-für-Schritt-Frieden lehnen die Palästinenser natürlich ab. Sie lehnen aber auch die Zwei-Staaten-Lösung ab, denn sie wollen einen Frieden, der von „Außen“ kommt. Das heißt, die Palästinenser möchten keinen direkten Frieden mit den Israelis, sondern einen, der durch Einmischung anderer Nationen zustande kommt. Die sogenannte binationale Lösung, in der Palästina und Israel einen gemeinsamen Staat bilden würden, ist sogar noch fantastischer und unwahrscheinlicher als die beiden anderen. Was ich damit sagen will: das eigentlich unmissverständliche und sehr konkrete Wort „Frieden“ kann für unterschiedliche Personen oder Gruppen durchaus unterschiedliche Bedeutungen haben. Für manche ist es gleichbedeutend mit sofortiger territorialer Trennung und einer Zwei-Staaten-Lösung. Für andere ist es nur eine kleine Etappe in einem langwierigen Prozess minimaler Fortschritte. Für wieder andere bedeutet Frieden eine Einmischung von Außen. Frieden ist also eine äußerst komplizierte Sache. Aus neutraler, objektiver Perspektive könnte man dennoch behaupten: keiner möchte Frieden. Oder besser: im Nahen Osten möchte jeder eine andere Art von Frieden.

FH: Ist das nicht vollkommen absurd? Ein unzulängliches Gleichgewicht zwischen Nicht-Frieden und Nicht-Krieg, eine Art unbestimmter, unabänderlicher Zwischenzustand?

RS: Solche Dinge passieren, wenn man nicht die Offenheit, sondern die nationale Geschlossenheit sucht. So ist das mit den Populisten in Europa. Wir befinden uns im 21. Jahrhundert. Wir haben das Wissen und auch die technischen Möglichkeiten das Universum zu erforschen. Wir sind fähig, zum Mond und vielleicht sogar bald zum Mars zu reisen, doch zur selben Zeit sind die meisten Menschen auf der Erde mit ihrem irrationalen Hass auf andere Menschen beschäftigt. Das ist ja sehr traurig, kaum zum Aushalten traurig sogar. Anstatt seinen Mitmenschen auf gleicher Ebene zu begegnen, diskriminiert man sie als Christen oder Juden oder Muslime. Oder in besonders rückwärtsgewandten Gesellschaften sogar als Frauen. Anstatt Menschen als Menschen zu betrachten, bewertet man sie als diesem oder einem anderen Land oder Volk zugehörig. Oder einer anderen Religion. Ist es wirklich so schwer, über die scheinbaren unwesentlichen Unterschiede hinwegzuschauen und den Menschen einfach nur als Menschen zu betrachten? Es wird vermutlich eine lange Weile dauern, bis es endlich so weit sein wird, eine ganze lange Weile…