Jerusalem

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Mittwoch, 27. Januar 2016

Drei Alchemisten in Bethlehem

Ein Tagtraum


Was für eine spannende Geschichte: drei weise Männer folgen der Bahn eines Himmelskörpers in ein fremdes Land, um die Geburt eines Kindes zu bezeugen, das laut ihrer gemeinsamen, der Reise zugrunde liegenden Vision mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet sein soll und dem es möglicherweise vorherbestimmt sei, die Menschheit zu erlösen. Die Geschichte von der Geburt Jesu ist allgemein bekannt, die Evangelisten haben sich in ihrer Chronik der wundersamen Vorgänge mit Blick auf die alttestamentarischen Prophezeiungen ganz offensichtlich bemüht, Jesus als legitimen Erfüller der abstrakten messianischen Heilserwartung des Judentums zu identifizieren. Was aber wissen wir über jene drei* „Magier“ (Μάγοι πό νατολών) die die spätere christliche Überlieferung zu „heiligen drei Königen“ gemacht hat, und die Martin Luther später durchaus visionär als „drei Weise aus dem Morgenland“ übersetzte?


Leonaert Bramer: Reise der Heiligen Drei Könige nach Bethlehem


Gerade in der Konzentration der Evangelisten auf die zahlreichen Details zur Erfüllung der biblischen Prophezeiungen wird deutlich, welche Rolle die jüdische Kultur als Keimzelle der neuen Religion spielt, auch wenn sie nun durch den neuen Glauben letztlich überwunden werden soll. Gleichzeitig offenbart die wenig präzise Bezeichnung „Magier aus dem Osten“ aber auch eine erschütternde Unkenntnis dessen, was außerhalb der engen Grenzen der eigenen, vermeintlicherweise einzigartigen Kultur vor sich geht. Die Bezeichnung „Magier aus dem Osten“ birgt ohne Zweifel ein vom Autor beabsichtigtes Geheimnis, oder soll durch seine Verwendung nur die eigene Unkenntnis verdeckt werden? Streng genommen ist „der Osten“ ein sehr weitläufiger Begriff, der nicht viel mehr als eine Himmelrichtung anzeigt – für einen in der alten Bundesrepublik Deutschland sozialisierten Menschen konnte er so Undenkbares wie die DDR oder – noch schlimmer – die Sowjetunion bedeuten.

Nicht wenige Altphilologen und Theologen vertreten die Ansicht, dass der Evangelist Matthäus auch die alternative Wortbedeutung des Griechischen Μάγοι gemeint haben könnte, nämlich „Mager“, also Zoroastrier. Da aus der Perspektive des antiken Mittelmeerraums Zoroastrier aber grundsätzlich aus dem Osten kamen, nämlich aus Persien, Nordindien oder Afghanistan, scheint diese Verwendung allerdings höchstens als sprachliches Stilmittel der Dopplung und Steigerung des grundsätzlich Fremden nachvollziehbar. Persien scheint von Palästina nicht so weit entfernt, als dass es ein zeitgenössischer Autor, der sich noch dazu der griechischen Sprache bedient, nicht entsprechend hätte benennen können. Es ist also wahrscheinlicher, dass ein weiter entfernter, noch geheimnisvollerer, dem antiken Autor gänzlich unbekannter Osten gemeint ist.

Es ist absolut bemerkenswert, wie viel Mühe die Evangelisten darauf verwenden, Jesus als rechtmäßigen Messias zu legitimieren. Dass drei Weise oder gar Magier aus dem Osten aufgrund einer Vision zu seiner Geburt anreisen, will zu diesem Zweck nicht so richtig passen. Wäre es da der Prophezeiung nicht dienlicher, es würden Vertreter der verlorenen Stämme Israels anreisen, um den künftigen Messias zu salben? Dennoch scheint die Episode mit den Μάγοι zu bedeutsam, um sie einfach wegzulassen, zeigt sie doch, dass selbst gelehrte Vertreter einer anderen Kultur durch göttliche Eingebung von der Geburt eines künftigen Erlösers der Menschheit erfahren haben und dessen zukünftige Bedeutung bereitwillig anerkennen. Handelt es sich hier womöglich um eine versteckte Legitimierung der Überwindung des Judentums hin zu einer neuen Religion, die auch in viel stärkerem Maße eine nichtjüdische Anhängerschaft anziehen möchte?


Lamas in Rot/Buchillustration, ca. 1920


Aus heutiger Sicht scheint es unvorstellbar, dass sich jemand aufgrund eines Traums oder einer Vision allein auf den Weg macht, um bei der Geburt eines fremden Kindes dabei zu sein, noch dazu aus einer so weit entfernten Region, dass sämtliche Menschen, denen er unterwegs begegnen wird, von seiner Heimat möglicherweise noch nie gehört haben werden. Eine so weite Pilgerreise würde ein heutiger Mensch höchstens einem von ihm verehrten Popstar zuliebe auf sich nehmen, aber wohl kaum schon zu dessen Geburt: der künftige Liebling der Massen muss sein Talent ja erst noch unter Beweis stellen. Dennoch gibt es noch heute eine spezifische Ausprägung einer großen Weltreligion, die auch in unserer Zeit noch auf ganz ähnliche Art und Weise auf die Suche nach neugeborenen Kindern als Neuverkörperungen ihrer verstorbenen spirituellen Führer geht: der tibetische Buddhismus setzt unmittelbar nach dem Tod des Dalai Lama oder des Panchen Lama Suchkommissionen aus hohen Würdenträgern ein, um deren neueste Inkarnationen ausfindig zu machen und entsprechend zu fördern.

Der Osten als mystisches „Morgenland“ ist voller wundersamer Geschichten, aber schon in der Antike sorgten gut ausgebaute Karawanenwege für einen regen Austausch. Obwohl die Paschtunen Afghanistans bis heute alles spezifisch Jüdische aufgrund ihres islamischen Glaubens ablehnen, leiteten sie sich noch im 18. Jahrhundert wie selbstverständlich von einem der verlorenen jüdischen Stämme her – eine Theorie, die im kolonialen England viel diskutiert wurde, aber hierzulande bis heute kaum bekannt ist. Es kursieren außerdem Theorien, nach denen Jesus als junger Mann, bevor er in Palästina zu predigen begann, Indien besuchte, wo er mit dem Buddhismus in Berührung gekommen sein soll. Buddhistische Quellen erwähnen in diesem Zusammenhang einen bestimmten Bodhisattva, der die fünfte Reinkarnation Buddhas gewesen sei und der mit seinen Lehren den späten Buddhismus beeinflusst habe. Einer jüngeren Überlieferung der muslimischen Ahmadiyya-Gemeinschaft zufolge sei Jesus sogar nach seiner Kreuzigung nach Kaschmir geflohen, wo er als Yuz-Asaf im sogenannten Roza-Bal-Schrein in Srinagar beerdigt sei, der bis heute besucht werden kann.

Unabhängig von ihrem historischen Wahrheitsgehalt, den wir niemals werden ergründen können, sind das alles ohne jeden Zweifel absolut prächtige Geschichten, die ganz offensichtlich erzählt werden wollen. Folgerichtig hat der indische Bestsellerautor Ashwin Sanghi unter dem Titel „The Rozabal Line“ daraus im Jahr 2007 einen spannenden Thriller im Stile Dan Browns konstruiert, dem auch international kommerzieller Erfolg und Kritikerlob beschieden war. Die Suche nach verborgenen Verbindungslinien zwischen einzelnen physischen Erscheinungsformen, die möglicherweise die Macht haben, das Unfertige und Trennende im Leben zu überwinden und uns zu einem Gefühl der Einheit mit uns und unserer Umwelt zu führen, ist ein natürliches menschliches Streben, dem wir uns offensichtlich nicht entziehen können, auch wenn uns jede scheinbare Erkenntnis oft allzu schnell immer wieder zu entgleiten vermag. Die Grenzen zwischen heilsamer Imagination, Esoterik und Verschwörungstheorie sind allerdings erschreckend fragil, deshalb müssen wir uns immer aktiv vor Augen führen, dass es sich dabei immer nur um Geschichten handelt. 


Leonaert Bramer: Anbetung der Heiligen Drei Könige


Der Zweck einer Geschichte aber kann – losgelöst von so dehnbaren Begriffen wie Sinn und Moral – auch allein darin bestehen, dass sie einfach nur erzählt und gehört wird. In dieser Hinsicht ist das überraschende Bild von drei lächelnden tibetischen Mönchen an der Krippe im Stall von Bethlehem ein ausgesprochen tröstliches, da es auf unkonventionelle, aber überzeugende Art und Weise der wunderbaren Vorstellung Ausdruck verleiht, dass hier nicht eine neue Religion als Prinzip zukünftiger Trennung entsteht, sondern ein vermeintlich Neues bereits im Werden von einem älteren Prinzip erkannt und als gegenwärtige Erscheinungsform eines ewigen Kreislaufes umschlossen wird, der sich beständig immer wieder erneuern muss, ohne sich in seiner Substanz und seinem Wesen zu verändern. An diesem Punkt wäre alle Spekulation über historische Fakten oder religiöse Wahrheit vollkommen überflüssig geworden, denn die drei Μάγοι wären hier fündig geworden und hätten ihre visionäre, in der Tat magische Aufgabe erfüllt.

* In der Bibel wird die genaue Anzahl der Μάγοι nicht genannt.

Montag, 25. Januar 2016

Hitlers Knastrede

Über das Wegsehen als deutsche Pflichterfüllung


Es scheint wie ein merkwürdiges synchronistisches Event, dass Adolf Hitlers unseliges Pamphlet mit dem martialnarzisstischen Titel „Mein Kampf“ in Deutschland ausgerechnet jetzt zur freien Veröffentlichung freigegeben wird, da in unserer Gesellschaft ganz ähnliche wirre Meinungen und Vorstellungen weitgehend unwidersprochen kursieren wie zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1925. Die vielfältigen Problemstellungen der sogenannten Flüchtlingskrise, die ja nur ein extremes Symptom einer jahrzehntelangen verfehlten Politik ist, können allerdings nur als eruptiver Ausbruch einer grundsätzlich radikalen Einstellung zu bestimmten Fragen gewertet werden, die sich über einen überschaubaren Zeitraum allmählich herausgebildet hat, den die meisten Erwachsenen selbst miterlebt haben, und die sich so trefflich unter dem Schlagwort „Man wird doch mal sagen dürfen“ zusammenfassen lässt. Dabei fällt es ausgesprochen schwer, sich nicht der zynischen Auffassung anzuschließen, dass die Zeit offenbar wieder reif gewesen sei für dieses Buch. 



Pegida und AfD sind ohne Zweifel ebenso ernstzunehmende Ausprägungsformen einer schweren geistigen Krise unserer Gesellschaft wie wir sie aus unserer vermeintlich unbelasteten, sicheren Perspektive der Nachgeborenen auch für die Zwischenkriegszeit konstatieren müssen. Wie bei jeder physischen oder psychischen Krankheit ist es jedoch absolut (überlebens-)notwendig, diese wertvollen Hinweise nicht zu negieren, sondern sie konkret zum Anlass zu nehmen, unmittelbar nach einer angemessenen Therapie zu suchen und sich dabei immer wieder bewusst zu machen, dass selbst der verhängnisvolle Weg in den Ersten oder Zweiten Weltkrieg keiner unveränderlichen zwangsläufigen Entwicklung folgte, die niemand jemals aufzuhalten die Macht hatte. Die Floskel „Man wird doch mal sagen dürfen“ beinhaltet dabei stets das volle Wissen des Sprechers, dass seine auf diese Weise geäußerte Meinung keine rationale und schon gar keine objektive, moralisch akzeptable Auffassung darstellt, sondern in der Regel die kindlich-unreife Einstellung eines Beleidigten repräsentiert, der um seine bequemen, als gottgegeben angesehenen Privilegien als Bürger und Steuerzahler fürchtet.

Es spricht also viel dafür zu behaupten, dass es angesichts der aktuellen Herausforderungen neben eines ganzheitlichen Heilungsansatzes auch einer kurzfristigen Behandlung der Symptome bedarf. Hitlers Buch ist ein Paradebeispiel für „Man wird doch mal sagen dürfen“ – wobei hier dem überforderten Leser nicht nur eine kaum zu bewältigende Liste vermeintlicher und tatsächlicher Missstände präsentiert wird, die zudem noch unter der unausgesprochenen Aufforderung „mach doch selbst weiter“ zum Teil mit „usw. –„ abgekürzt werden.  Gleichzeitig installiert der zukünftige Massenmörder „den Juden“ auf besonders abscheuliche Art und Weise als willkommenes Feindbild, das er für alle Übel der Welt verantwortlich gemacht wissen will. Dabei gibt er dem Leser sogar einen relativ unverstellten Ausblick darauf, wie er selbst mit diesem Feind in Zukunft zu verfahren gedenkt. Sein Rudolf Hess während der Haft in die Schreibmaschine diktiertes Buch als besonders aufschlussreiches Psychogramm eines zukünftigen Diktators mit angekündigtem Massenmord war allgemein bekannt. Die Tatsache, dass jeder Deutsche spätestens nach dem nationalsozialistischen Wahlerfolg von 1933 über Hitlers Pläne hätte informiert sein können, vielleicht sogar müssen, ist erschreckend. Es ist die Philosophie des gezielten Wegsehens, solange ein eigener Vorteil zumindest im Bereich des Möglichen liegt. Und es ist dieselbe Einstellung, die sich später auch in der viel bemühten Lüge äußern sollte, man habe von all dem nichts gewusst.


Pegida-Demonstration in Dresden

Die scharfsinnigste Abhandlung über den späteren Diktator als Autor sowie die Entstehungsgeschichte, Wirkung und fatale Nachwirkung seines Buches hat der Schauspieler und Kabarettist Serdar Somuncu bereits vor 15 Jahren als Hörbuch veröffentlicht. In seiner ausdrücklich unvollständigen Lesung (denn die vollständige Lesung war ja verboten) wird auf kongeniale Art und Weise deutlich wie die schleichende Implementation eines totalitaristischen Weltbildes funktioniert. „Darf man über dieses Buch lachen?“, fragt Somuncu gleich zu Beginn seiner Lesung und beantwortet diese angesichts der im Buch indirekt angekündigten Verbrechen absolut naheliegende und legitime Frage sogleich mit einem kategorischen „Nein!“. Schiebt dann aber mit Hinweis auf die zahlreichen darin versammelten sexuellen Zweideutigkeiten und kuriosen Tierbeispiele nach: „Aber man kann gar nicht anders“, zum Beispiel, wenn Hitler über die „Eier der Columbusse“ schwadroniert, die „zu Hunderttausenden“ herumliegen, oder ganz ernsthaft behauptet: „Schöpferisch tätige Menschen sind von jeher und von Grund aus schöpferisch veranlagt, auch wenn dies den Augen oberflächlicher Betrachter nicht erkenntlich sein sollte“. 

Somuncu, der auf einer späteren CD auch Goebbels berüchtigte „Sportpalastrede“ treffend sezierte, ist mit seinem Programm überall auf der Welt aufgetreten, in New York ebenso wie in Israel, auch vor deutschen Neonazis, deren erklärtes Ziel es eigentlich war, die „Türkenlesung“ zu stören. Doch selbst die mussten am Ende lauthals lachen. Es ist allerdings ein Lachen bitterster Erkenntnis, das dem Hörer unweigerlich im Halse stecken bleiben muss. Während seiner unmittelbaren Entstehungszeit hat kaum jemand dieses Buch ernst genommen, nicht einmal die erklärten politischen Gegner der Nationalsozialisten. Auch heute nimmt nahezu niemand die Protagonisten von Pegida ernst. Für beides gibt oder gab es naheliegende Gründe. Wenn es jedoch eine einfach Erkenntnis aus der Beschäftigung mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten sowie der Rezeptionsgeschichte von „Mein Kampf“ gibt, dann ist es die Einsicht, dass auch ein simples, unrealistisches, aberwitziges, leicht als falsch zu durchschauendes Weltbild von uns sehr wohl als konkrete Gefahr ernst genommen werden muss.



Es ist ausgesprochen leicht und verlockend, einzelne Aussagen von Pegida-Mitgliedern oder AfD-Funktionären als absurde, kurzsichtige oder verblendete Ausprägungen eines unrealistischen Weltbildes abzutun und der Lächerlichkeit preiszugeben. Eine offene Auseinandersetzung mit starren Ideologien ist immer aufwendig, da sich diese nicht auf objektive Erfahrungen gründen, sondern allein auf zu Dogmen geronnenen Hypothesen, die vor allem der geistigen Bequemlichkeit ihrer Postulanten dienen. Deren mangelnde Empfänglichkeit gegenüber sachlichen Argumenten, objektiver Vernunft und allgemeiner menschlicher Herzensbildung macht eine Diskussion mit ihnen besonders schwierig. Trotzdem müssen wir sie auf uns nehmen, denn ideologische oder gar physische Abgrenzung kann immer nur ein kurzfristiger Selbstschutz sein – als langfristige Strategie taugt sie ebenso wenig gegen rechtes Gedankengut wie gegen den legitimen Wunsch von Bürgerkriegsflüchtlingen auf ein menschenwürdiges Leben in Freiheit. Tatenlosigkeit ist keine Option – Opposition muss immer aktiv sein.

"Serdar Somuncu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders", erschienen bei Random House Audio, ca. 60 Minuten, € 14,99
"Der Adolf in mir - Die Karriere einer verbotenen Idee", erschienen bei Wortartisten, 158 Seiten, € 12,95

Donnerstag, 7. Januar 2016

„Das Tagebuch der Rywka Lipszyc“

Wenn bei einer Buchneuerscheinung der Anhang mehr Platz einnimmt als der eigentliche Text, muss das den Leser unwillkürlich misstrauisch stimmen, glaubt er doch schon vor der eigentlichen Lektüre zu ahnen, dass der Text ohne seinen umfangreichen Erläuterungsapparat möglicherweise nicht als eigenständiges Werk zu bestehen vermag, sondern dringend weiterführender Erklärung oder gar wissenschaftlicher Einordnung bedarf, um überhaupt verstanden werden zu können. Die von ihm selbst zu investierende Mühe, wäre dann im Verhältnis zum erwartenden intellektuellen Gewinn unter Umständen zu groß. Diese wohlabgewogene Sorge ist allerdings im Fall des im Jahr 1995 unter abenteuerlichen Umständen wiederentdeckten und 2014 in den USA erstmals veröffentlichten Tagebuchs der zum Zeitpunkt der Niederschrift vierzehnjährigen polnischen Jüdin Rywka Lipszyc über ihre Leidenszeit im Ghetto von Lodz vollkommen unbegründet. 



Dabei lohnt es sich nicht nur, über den eigentlichen Inhalt des Tagebuchs zu sprechen, dessen absolute Chronologie etwa sechs Monate im Jahr 1944 umfasst, sondern auch den verstörend unfertigen Lebensweg seiner jugendlichen Autorin nachzuverfolgen sowie die Geschichte der abenteuerlichen Auffindung ihres Textes und seines Wegs zur erfolgreichen Publikation zu erzählen. Rywka Lipszyc wurde 1929 in Lodz geboren, einer wirtschaftlich florierenden multikulturellen Großstadt, deren jüdischer Bevölkerungsanteil vor dem Zweiten Weltkrieg ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachte. Ihre Familie war streng orthodox, ein Onkel von ihr hatte viele Jahre lang als geachteter Oberrabbiner von Lodz gewirkt. Die Einrichtung des sogenannten Ghettos Litzmannstadt durch die Nationalsozialisten, eines der größten abgetrennten jüdischen Wohnviertel im besetzten Osteuropa, das heute zu Unrecht als weniger berüchtigt gilt als das von Warschau, veränderte das Leben der dort wahllos zusammengepferchten Juden auf katastrophale Art und Weise, denn die Besatzer hatten für ihre schändlichen Zwecke einen unterentwickelten Stadtbezirk ausgesucht, dessen Wohnraum der Einwohnerzahl nicht nur vollkommen unangemessen war, sondern nicht einmal ein funktionierendes Abwassersystem aufwies.

Gestern Abend habe ich mich mit Minia gestritten, ich weiß gar nicht mehr, worüber (es ging um einen Stuhl), ich weiß nur noch, dass ich mich sehr aufgeregt habe und weinen wollte, als ich im Bett war. Zum Glück konnte ich weinen, aber nur ein bisschen. Ich wäre wirklich am liebsten gestorben. Ich habe wirklich versucht, mich wieder zu beruhigen, aber ich habe das Leben satt. Ich habe gedacht: Ich weiß, dass ich jetzt, wo ich gern sterben würde, nicht sterben werde. Ich werde sterben, wenn ich leben möchte, wenn ich etwas haben werde, wofür sich zu leben lohnt. Wozu braucht man solch ein Leben? Wäre es nicht besser, man würde sterben, wenn man nichts hat, wofür man lebt, als dann, wenn man leben möchte? Aber auf all diese Fragen konnte ich keine Antwort finden.

Die hermetische Abriegelung des Ghettos durch die Deutschen bewirkte zum einen, dass Flucht oder auch nur Informationsaustausch mit den äußeren Stadtbezirken nahezu unmöglich war, zum anderen, dass sich Krankheiten und Seuchen von Anfang an fast ungebremst ausbreiten konnten – selbst ein minder schwerer grippaler Infekt konnte sich unter diesen Umständen leicht zu einer Epidemie auswachsen, die innerhalb weniger Wochen die vom jüdischen Ghettoverwalter Chaim Rumkowski organisierten Manufakturen fast vollkommen zum Erliegen zu bringen vermochte, in denen er, vermeintlicherweise um die Bevölkerung zu schützen, sogenannte kriegswichtige Waren herstellen ließ. Nach dem Tod von Rywkas Vaters an den Spätfolgen einer massiven Misshandlung durch marodierende Nazis in den Tagen der Eroberung der Stadt, dem krankheitsbedingten Tod ihrer Mutter sowie der Deportation zweier ihrer Geschwister fand die Vierzehnjährige mit ihrer jüngeren Schwester Cipka wenig liebevolle Aufnahme im trostlosen Frauenhaushalt ihrer Tante und deren Töchtern, der von Neid und Missgunst geprägt war.


Fußgängerbrücke im "Ghetto Litzmannstadt"/Bundesarchiv, Bild 101I-133-0703-20

Durch die immer noch hilfreiche, nachhaltige Prominenz ihres verstorbenen Onkels, des ehemaligen Oberrabbiners, gelang es dem aufgeweckten Mädchen schnell, durch eigene Initiative an eine der begehrten und privilegierten Stellen in einer Kleiderfabrik zu gelangen, in deren Rahmen junge Frauen nicht nur zu Schneiderinnen ausgebildet wurden, sondern während ihrer Arbeitszeit von zehn Stunden und mehr auch eine gewisse rudimentäre Schulbildung erhielten. In den Abendstunden nahm sie regelmäßig an einem Literaturkreis älterer Mitschülerinnen teil, der ihr unter den ungünstigen Rahmenbedingungen im Ghetto dennoch wichtigen Raum zur geistigen Entwicklung eröffnete. Ihr ergreifend ehrliches, emotionales Tagebuch, in dem sie immer wieder auch ihre Herzensfreundin Surcia direkt anspricht, diente der Heranwachsenden vor allem als dankbares Mittel zur Selbstvergewisserung in einer feindlichen Welt, die aus der Perspektive ihrer bisherigen gut behüteten, tief religiösen Lebenserfahrung kaum mehr zu begreifen war.

Liebe Surcia!
Manchmal denke ich, das Leben ist ein dunkler Weg. Auf diesem Weg gibt es zwischen den Dornen auch andere, zartere Blumen. Diese Blumen haben kein besonderes Leben, sie leiden wegen der Dornen. Manchmal beneiden die Dornen die anderen Blumen um ihre Schönheit und setzen ihnen noch mehr zu. Und die Blumen werden entweder selbst zu Dornen oder leiden still und gehen weiter auf der Dornenstraße. Nicht alle schaffen es, doch wenn sie durchhalten, werden sie dafür belohnt. Ich glaube, das passiert nicht oft, aber ich denke, dass jeder wahre Jude auf ein Ziel zustrebt, still und leidend zugleich. Außerdem denke ich, das Leben ist schön und schwer, man muss zu leben wissen. Beneidenswert sind die Menschen, die viel gelitten haben, die durchs Leben gegangen sind und im Kampf mit dem Leben gesiegt haben. Surcia, solche Menschen (wenn ich etwas über solche Menschen lese oder höre) machen mir Mut. Ich merke dann, dass ich weder die Einzige noch die Erste bin, dass ich hoffen kann. Aber ich schreibe nicht über mich.

Doch auch der schwer fassbare Schmerz und die vielfältigen Verunsicherungen des Erwachsenwerdens, noch gesteigert durch den schwelenden Streit mit ihrer Cousine um zahlreiche alltägliche Nichtigkeiten sowie ihr fundamentales Verlassenheitsgefühl nach der Deportation und dem Tod ihrer Eltern nehmen wichtigen Raum in Rywkas Aufzeichnungen ein. Daneben spüren wir stets das tiefe, rührend wahrhaftige innere Anliegen der jugendlichen Autorin, trotz der widrigen Umstände auch vor sich selbst ein gottgefälliges, moralisch vorbildliches Leben aufrecht zu erhalten und ihrer jüngeren Schwester ein sicherer familiärer und freundschaftlicher Rückhalt zu sein. Dabei erkundet sie für sich selbst und in Gesprächsrunden mit ihren Kameradinnen auch die zahlreichen, bereits seit Jahrzehnten lebhaft diskutierten Möglichkeiten, wie ein traditionelles jüdisches Leben auch jenseits einer vorwiegend religiösen Definition aussehen könnte.

Näherinnen in der Kleiderfabrik, 1941/Bundesarchiv, Bild 101I-133-0719-13

Im Winter 1943/44 lassen die Nationalsozialisten die Lebensbedingungen im Ghetto weiter eskalieren. Die Lebensmittelrationen werden stetig reduziert, Arbeiter mit Sonderschichten verlieren nach und nach ihre Privilegien, und die Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager werden häufiger und regelmäßiger. Wir müssen davon ausgehen, dass Rywka kurze Zeit nach ihrem abrupt abgebrochenen letzten Tagebucheintrag am 12. April 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Ihre Aufzeichnungen wurden im Frühjahr 1945 von Angehörigen der Roten Armee in den Ruinen des Konzentrationslagers gefunden – die Heranwachsende hatte sie offensichtlich als wertvoll genug angesehen, um sie auf ihrer Reise mitzuführen, obwohl die Nazi-Bürokraten nur ein äußerst geringes zulässiges Gesamtgewicht für Reisegepäck definiert hatten. Eine russische Stabsärztin nahm das Tagebuch nach dem Krieg mit nach Sibirien, von wo aus sie ohne Erfolg zahlreiche Versuche unternahm, Rywkas Text ins Russische übersetzen zu lassen. Mit ihrem Nachlass gelangte das Manuskript schließlich in die USA. Dem Engagement der langjährigen Archivarin des Holocaust Center of Northern California, Judy Janec, ist es zu verdanken, dass Rywka Lipszyc‘ Aufzeichnungen heute nicht nur in gedruckter Form vorliegen, sondern auch um einen eindrucksvollen Anhang erweitert wurden, in dem sich neben renommierten Historikern auch Rywkas überlebenden Verwandten mit ihren Erinnerungen zu Wort melden.

Weißt Du, manchmal, wenn es mir sehr schlecht geht, bewundere ich das Leben. Dann komme ich ins Grübeln. In ein und demselben Moment weinen Menschen, andere lachen, wieder andere leiden usw. Manche werden geboren, andere sterben, wieder andere sind krank usw. Die geboren werden, wachsen heran und reifen, um wieder zu leben und zu leiden. Und doch wollen alle leben, unbedingt leben, und jeder, der lebt, hat Hoffnung (vielleicht manchmal unbewusst), und obwohl das Leben schwer ist, ist es schön. Das Leben hat einen seltsamen Reiz. (Aber ich sage Dir die Wahrheit, dass ich jetzt gar nicht mehr leben will, ich habe einfach keine Kraft mehr, gleich lege ich mich schlafen und am liebsten möchte ich gar nicht mehr aufstehen.)

Dabei scheint es durchaus fragwürdig, die Buchausgabe anstatt mit dem voll und ganz für sich selbst sprechenden Tagebuchtext mit einem sehr umfangreichen, allerdings auch sehr erhellenden Vorwort des Historikers Fred Rosenbaum beginnen zu lassen. Unabhängig von den unbestrittenen Meriten eines ausgewiesenen Holocaust-Experten besitzt ein autobiografischer Text (der in diesem Fall von der Autorin niemals zur Veröffentlichung vorgesehen war, worin eine zusätzliche Problematik besteht, über die wir gewöhnlich aus dokumentarischen Erwägungen einfach hinweggehen) immer auch eine Dimension, die sich besonders dem historisch interessierten Leser von ganz allein erschließt, ohne dass er besondere Mühe darauf verwenden müsste. Jede Stimme jedes einzelnen Opfers sollte gehört und verstanden werden – allein daraus erschließt sich seine ganz spezifische verlorene Lebenswelt, und allein dadurch wird das Ausmaß des von den Nationalsozialisten entfesselten Schreckens deutlich.  Dass dem Leser hier schon vor der eigentlichen Lektüre gewissermaßen vorgeschlagen wird, wie er das Tagebuch Rywka Lipszyc‘ aufnehmen sollte, hat trotz der angebotenen Faktenfülle einen unangenehm arroganten Beigeschmack.

Mahnmal am Deportationsbahnhof Radegast, Lodz/Foto: Piotr Matyja

Ohne Frage sollten wir niemals aufhören danach zu streben, unsere Vergangenheit verstehen zu wollen. Allerdings scheint es fragwürdig, sie mit unserer Deutung gleichzeitig auch für abgeschlossen zu erklären – dazu ist die Vergangenheit zu komplex. Rywkas Geschichte indes ist mit dem Tagebuchtext noch lange nicht auserzählt. Wir wissen, dass sie die Konzentrations- und Todeslager, schwer vom Typhus gezeichnet, überlebt hat und sich nach dem Krieg in Lübeck auf die Auswanderung nach Schweden vorbereitete. In einem Krankenhaus der Hansestadt verliert sich ihre Spur, und alle Versuche, sie wieder aufzunehmen, sind seither gescheitert. Es existiert weder eine Sterbeurkunde noch ein Grab noch gibt es Hinweise, dass sie unter anderem Namen vielleicht doch weitergelebt haben könnte. Dieses spurlose Verhallen einer verfolgten, misshandelten Seele mit all ihren unschuldigen, reinen Plänen, Hoffnungen und Träumen macht Rywkas Schicksal noch unerträglicher.

„Das Tagebuch der Rywka Lipszyc“, aus dem Polnischen und Englischen von Bernhard Hartmann, erschienen im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp, 237 Seiten, € 22,95

Dienstag, 5. Januar 2016

„Gott gab es aber Gretel ein“

Über den Verbleib der bösen Mutter im Märchen


Als Hänsel und Gretel den dunklen Wald ihrer furchtbaren inneren Reise verlassen und das Wasser des Unbewussten auf dem Rücken einer weißen Ente überqueren, schließt der dankbare Vater seine beiden Kinder erleichtert in seine Arme und heißt sie freudig willkommen. Wo aber ist seine hartherzige Frau geblieben, die böse Mutter der Urfassung von 1812 bzw. die Stiefmutter der späteren Fassungen, die ihren Mann überredet hatte, die beiden gemeinsamen Kinder im tiefen Wald auszusetzen, damit sie sich verirren oder gar sterben und das arme Ehepaar auf ihre Kosten künftig ein unbeschwerteres Leben führen kann und nicht länger hungern muss? „Die Mutter aber war gestorben“, heißt es am Ende ganz lapidar. Trotzdem haben sich viele Leser und Interpretatoren dieses archetypischen Ur-Märchens immer wieder die Frage gestellt, was genau aus dieser von Grund auf bösen Frau geworden sein mag, die kaltblütig ihre Kinder opferte, und welches unbekannten Todes sie gestorben ist.






Wenn man das Märchen von Hänsel und Gretel als große innere Handlung einer gewaltigen, von den beiden Kindern gemeinsam zu leistenden psychischen Aufgabe interpretiert, deren einzelne Stationen wie in einem intensiven Traum erstaunlich klar und folgerichtig und in geradezu unmissverständlicher Deutlichkeit vor uns liegen, kann die anfängliche Überraschung kaum größer sein als die nachhaltig überwältigende Erkenntnis, dass wir uns die ganze Zeit über von einer vollkommen falsch formulierten Frage haben in die Irre führen lassen. Das Schicksal der bösen (Stief-)Mutter wird uns doch ganz konkret und überdeutlich im Märchen selbst geschildert, wir müssen gar nicht darüber spekulieren: Hänsel und Gretel haben sie in Gestalt der Hexe in den Ofen geschoben, wo sie unter furchtbarem Geschrei und Gejammer bei lebendigem Leib verbrannt ist.  Die Figur der Hexe im dunklen Wald des Unbewussten kann zweifellos nichts anderes sein als eine besonders deutliche Vergegenwärtigung der (Stief-)Mutter, deren Bösartigkeit allerdings nun erst besonders augenscheinlich geworden ist. 

Da schien der Mond hell und die weißen Rieselsteine glänzten wie lauter Batzen. Hänsel bückte sich und machte sich sein ganz Rocktäschlein voll davon, so viel nur hinein wollten, dann ging er zurück ins Haus: „tröste dich, Gretel, und schlaf nur ruhig,“ legte sich wieder ins Bett und schlief ein.

Es gibt im Text des Märchens zahlreiche Hinweise, dass seine innere Logik der eines bedeutsamen Traumes folgt. Ein Traum, der uns eine dem wachen Bewusstsein noch verborgene Erkenntnis mitteilen will, arbeitet stets mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Symbolen, die sich zwar von Situation zu Situation verändern oder oft auch graduell verstärken können, aber in der Regel stets dieselbe Aussage wiederholen – und zwar (sofern wir den Traum aushalten) so lange, bis wir ihre Bedeutung für uns selbst erkennen und deuten können.  Hänsel und Gretel versuchen die Begegnung mit der wahren Gestalt ihrer Mutter, wie sie ihnen später im Wald als Knusperhexe erscheint, zweimal zu vermeiden – zu verdrängen eigentlich: indem Hänsel zunächst eine Spur aus Kieselsteinen legt, die die beiden Kinder schließlich nach Hause führt, und beim zweiten Mal eine aus Brotkrümeln, die von Vögeln und anderen Tieren des Waldes gefressen und somit beseitigt wird. Nun können sich die beiden Geschwister der großen, von ihnen zu vollführenden Aufgabe endgültig nicht mehr entziehen.


Hänsel und Gretel erschracken so gewaltig, daß sie fallen ließen, was sie in der Hand hielten, und gleich darauf sahen sie aus der Thüre eine kleine steinalte Frau schleichen. Sie wackelte mit dem Kopf und sagte: „ei, ihr lieben Kinder, wo seyd ihr denn hergelaufen, kommt herein mit mir, ihr sollts gut haben,“ faßte beide an der Hand und führte sie in ihr Häuschen.

Doch obwohl Hänsel und Gretel nun „mutterseelenallein“ sind, auf sich selbst zurückgeworfen, drängt gerade jetzt die grausame Mutterfigur noch einmal mit übersteigerter Wucht zurück in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, so dass sie nicht mehr ignoriert werden kann, zunächst jedoch als letzte verzweifelte Täuschung: hatten die beiden Geschwister kurz zuvor noch ihre letzten Brotkrümel weggeworfen, um eine sinnlos-vergängliche Spur in ihr altes Leben zu legen, das inzwischen unerreichbar ist, stehen sie plötzlich ganz unverhofft vor einem ganzen Haus aus Brot. Das dort wohnende gute alte Mütterchen, das sie zunächst so gastfreundlich mit Milch, Pfannkuchen und Nüssen bewirtet, entpuppt sich schon bald als böse alte Hexe, die sich im wahrsten Sinne des Wortes von den beiden Kindern ernähren will: Hänsel soll gekocht, Gretel gebraten werden. Nun lässt sich die bahnbrechende Erkenntnis nicht mehr verdrängen, die beiden Geschwister müssen handeln und sich radikal von der bösen Mutterfigur befreien. Gretel gelingt es, die Hexe zu überlisten, so dass am Ende jene statt ihrer selbst im Ofen verbrennt.




Der Reichtum aus Edelsteinen und Perlen, den Hänsel und Gretel im Hexenhaus vorfinden, ist allerdings – ähnlich wie im Märchen von den „Sterntalern“, der vermutlich einzigen Zen-Geschichte der deutschen Romantik – nur symbolischer Natur: jetzt, nach dem Tod der Hexe, können sie endlich jenes freie, selbstbestimmte, edelsteinfunkelnde Leben als geliebte Kinder führen, das ihnen von Natur aus gebührt. Obwohl die abschließende Formulierung „Die Mutter aber war gestorben“ letztlich überflüssig ist, denn wir haben es ja selbst gehört oder gelesen und „miterlebt“, scheint der eigentümliche Satz in seinem umgangssprachlichen Doppelsinn umso tröstlicher und kann somit als letzte Bekräftigung der von den Kindern vollführten Aufgabe gelten: die böse Mutter wäre und bliebe für die beiden Geschwister wie für ihren reumütigen Vater selbst noch als Lebendige „gestorben“ im Sinne einer abgeschlossenen Vergangenheit, mit der man sich schon aus Gründen der eigenen Seelenökonomie nicht mehr beschäftigen sollte.

Montag, 4. Januar 2016

„Ein Mädchen nicht von dieser Welt“ von Aharon Appelfeld

Die Geschichte des wundersamen Überlebens zweier neunjähriger Jungen unter deutscher Verfolgung im Jahr 1944 als eine Art Märchen zu erzählen, ist ein großes literarisches Wagnis, das man einem anderen Schriftsteller als Aharon Appelfeld, dem zweifellos größten noch lebenden Chronisten der Schoah, wohl kaum verzeihen würde. Tatsächlich wiegt der mögliche (und in diesem Fall unberechtigte) Vorwurf der Verharmlosung eines singulären Verbrechens schwer, und ohne Kenntnis des bereits vorhandenen umfangreichen Gesamtwerkes des 1932 bei Czernowitz geborenen israelischen Autors, in dem dieser einer beeindruckenden Anzahl einzelner Aspekte der Verfolgung eine unvergessliche literarische Form verliehen hat, wäre ein schmaler Band wie die nun erschienene, ungewohnt hoffnungsfrohe Erzählung „Ein Mädchen nicht von dieser Welt“ kaum denkbar. Umso erstaunlicher, dass der bald Vierundachtzigjährige sein Werk nun ganz bewusst um eine scheinbar simple, sogar für junge und jüngere Leser geeignete kleine Geschichte erweitert, in der – entgegen den Erwartungen des Lesers – beinahe alles anfängliche Leid der Protagonisten zu einem positiven Ende gewendet wird.




Ein namenloses Ghetto in der Bukowina steht kurz vor der endgültigen Auflösung, die Deportation ist für den nächsten Tag angesetzt. Zwei Mütter haben unabhängig voneinander eine letzte, verzweifelte Idee, wie sie ihre beiden gleichaltrigen Söhne möglicherweise doch noch vor der schrecklich gewissen Reise ins Ungewisse bewahren können und bringen sie kurz vor Tagesanbruch jeden für sich allein in den Wald. Anders als im Märchen von Hänsel und Gretel jedoch, die nach Vorstellung ihrer Stiefmutter in der Wildnis den Tod finden sollen, ist der dichte, urwüchsige und vor allem in positiver Hinsicht unkultivierte Wald in Appelfelds Erzählung der letztmögliche Rückzugsort des Menschlichen, der in seiner reinen, unberührten Natürlichkeit – so jedenfalls der sehnliche Wunsch – vielleicht auch das unschuldige Leben der Söhne zu bewahren vermag. Hier, am glücklichen Erinnerungsort zahlreicher gemeinsamer Sonntagsspaziergänge, sollen sie bis zum Abend auf die Rückkehr der Mütter warten. Der Leser ahnt jedoch sofort, dass jene kaum bis zum Einbruch der Nacht zurückkehren werden.

Bist du sicher, dass unsere Mütter kommen und uns holen?“
Meine Mutter hält immer, was sie verspricht“, sagte Adam, „und deine Mutter bestimmt auch. Aber wir dürfen nicht vergessen, wie gefährlich es ist. Das Ghetto ist fest abgeriegelt. Die Wachtürme beobachten alles, sie leuchten mit starken Scheinwerfern. Und die meisten Kellerausgänge sind bewacht.“
Seit dem Krieg hat sich alles verändert“, sagte Thomas mit einer Stimme wie ein Erwachsener.
Unsere Eltern haben sich nicht verändert“, entgegnete Adam. „Sie waren unsere Eltern und werden immer unsere Eltern bleiben.“ Er wunderte sich über seine eigenen Worte.

Schon hier, zu Beginn seiner Erzählung arbeitet Appelfeld sehr kunstvoll heraus, was während der gesamten Lektüre stets unausgesprochen im Leser mitschwingen wird. Wie schwer muss den verzweifelten Müttern ihre bittere Lüge gefallen sein, bis zum Abend zurück zu sein! Ihre verständliche Befürchtung auch, die wir in uneingeschränkter Empathie mit ihnen teilen, dass der zärtliche Abschied unter der Eiche möglicherweise die unwiderruflich letzte Erinnerung der beiden Jungen an ihre Mütter sein wird – und auch die letzte Erinnerung der Mütter an ihre Kinder: schon hier unzählbares Leid – heilbar vielleicht allein durch ein späteres Wiedersehen im ungewissen Frieden, auf den man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr als hoffen kann. Es ist offensichtlich: der Autor darf selbst im oberflächlichen erwachsenen Leser ein umfangreiches Vorwissen über jüdische Lebensläufe innerhalb der Schoah voraussetzen, das ihn während des gesamten Verlaufs der Lektüre kaum auf ein glückliches Ende hoffen lassen wird.  


Im Dickicht/Foto: Steven Brown


Am Ende des ersten Tages im Wald begegnen sich die beiden Jungen und erkennen in sich ehemalige Schulkameraden aus der Zeit der ersten und zweiten Klasse – damals, als es noch Kindheit, Familie und Schule gab. Adam ist ein praktisch veranlagter, unbekümmerter Junge, der in den letzten Monaten schwere Arbeiten verrichtet hat, um seine Eltern zu unterstützen, während der wohlerzogene Thomas, Sohn eines Gymnasiallehrers, ein weltfremder Denker und Träumer ist, der sich im Elternhaus bis zuletzt mit Denkaufgaben und Schachrätseln beschäftigt hat. Als vom Autor bewusst so konzipierte charakterliche Gegenpole ergänzen sich die beiden perfekt und wachsen im Verlauf ihres Abenteuers zu echten Schicksalsbrüdern zusammen. Und indem jeder der beiden unablässig vom anderen lernt, führt uns Appelfeld unaufdringlich vor Augen, dass für das Überleben an diesem außergewöhnlichen Ort beide Charaktereigenschaften notwendig sind. Was bewahrt einen Menschen davor aufzugeben? Was hält ihn am Leben, wenn die Vorräte ausgehen? Welche Früchte und Wurzeln sind essbar? Wie kann man auch einen bitterkalten Winter im Wald überleben? Und was ist eigentlich Hoffnung?

Sie saßen am Bach blickten in das klare Wasser und schwiegen.
Der Bach ist ein lebendiges Wesen“, sagte Adam schließlich.
Willst du damit sagen, dass der Bach uns am Leben erhält?“
Nein, das meine ich nicht. Es ist schön anzusehen, wie das Wasser glitzert und sich bewegt. Die Augen genießen den Anblick des Wassers, und das Herz wird froh.“
Seltsam“, sagte Thomas.
Was ist daran seltsam?“
Mein Vater sagt immer, wir müssten von allen Dingen lernen. Aber was können wir vom Wasser lernen?“
Das ist schwer zu erklären. Wenn du gern zuschaust, wie das Wasser fließt, wirst du auch gern einen schlafenden Hund betrachten“, sagte Adam, und beide lachten.

Am ersten Abend im Wald teilen die beiden Jungen ihre Vorräte brüderlich miteinander und schlafen gemeinsam im Moos. Keiner von ihnen will zu Diana gehen, der mürrischen alten Haushaltshilfe von Adams Mutter, die gegen einen ins Futter des Mantels eingenähten Goldreif Unterschlupf gewähren soll. Schon am nächsten Tag beginnen sie, sich ein Baumhaus zu bauen, das sie von Woche zu Woche noch perfektionieren. Als nachts immer wieder in wilder Flucht Menschen unter ihrem Baum vorbeihetzen, sie immer häufiger auch Gewehrschüsse hören, ziehen sie tiefer in den Wald und später noch weiter ins Dickicht, wo sie sich einen neuen Unterschlupf bauen. Als der Herbst beginnt, legt ihnen ein Fremder, den sie bei ihren Erkundungsspaziergängen getroffen haben, Nahrungsmittel und eine Schutzplane unter einen Baum. Und dann begegnen sie ganz unverhofft ihrem persönlichen „Engel“ – einem „Mädchen, nicht von dieser Welt“, einer ehemaligen Schulkameradin, die von einem Bauern versteckt wird. Sie ist diejenige, die unter großer persönlicher Gefahr und Erduldung regelmäßiger Schläge die beiden Jungen mit ihren regelmäßigen unverhofften Lebensmittelgaben am Leben erhält.


Lichtblick/Foto: Rosa-Maria Rinkl


Als man in der Ferne bereits den Kanonendonner der Roten Armee hört, beginnt der Winter mit unerbittlicher Härte. Wäre nicht mittlerweile auf wundersame Art und Weise Adams Hund zu den beiden Jungen gestoßen, der sie nachts mit seinem Körper wärmt, hätten sie die erste Winterwoche nicht überstanden. Doch dann wird es noch kälter, und es hört einfach nicht auf zu schneien. Schließlich flüchtet sich auch das von den Schlägen ihres Retters zerschundene Mädchen zu den beiden Jungen. Die Lage der drei scheint endgültig hoffnungslos. Frierend liegen sie gemeinsam im Baumhaus und möchten am liebsten dem Drang nachgeben einzuschlafen. Doch da wird der Hund unruhig, fängt an zu bellen und springt aus dem Versteck. Was dann passiert, erinnert an den Traum des Mädchens mit den Schwefelhölzern aus Hans Christian Andersens berühmtem Kunstmärchen, denn die folgenden Ereignisse scheinen buchstäblich „zu schön für diese Welt“, und der Leser befürchtet bis zum Schluss, dass sich auch die Schlusswendung von Appelfelds Erzählung letztlich nur als schöner Traum vor dem Erfrieren entpuppt.

Adams Mutter sagte: „Wer hat unsere Kinder nur in diesem harten Winter beschützzt?“
Unsere Kinder sind vernünftig, sie selbst haben auf sich aufgepasst“, sagte Thomas' Mutter.
Adam wollte fragen, wo sein Vater und seine Großeltern waren, aber er schwieg. Tief im Herzen wusste er, dass es nicht der richtige Zeitpunkt für Fragen war.

Aharon Appelfeld ist mit seiner kleinen, märchenhaften Erzählung das eindrucksvolle Kunststück einer scheinbar konventionellen Abenteuergeschichte mit Happy End gelungen, in der trotz des wunderbaren Handlungsverlaufs stets deutlich der Schatten des „was wäre, wenn es böse ausginge“ mitschwingt. Diese im Leser stets präsente zweite Dimension der Handlung, die wir leider für ein Holocaust-Schicksal eher als symptomatisch annehmen müssen als das von uns herbeigesehnte glückliche Überleben der beiden Jungen im Wald, macht den möglichen Vorwurf der Simplifizierung oder Verharmlosung letztlich vollkommen unsinnig. Natürlich muss es trotz der unfassbaren Zahl von sechs Millionen Ermordeten immer auch möglich sein, einen alternativen Lebenslauf vollständig auszuerzählen, der die Verfolgung durch Nazi-Deutschland erfolgreich besteht: auch Rettung durch fremde Hilfe oder eigene Kraft war bekanntermaßen möglich. Appelfeld gelingt es auf selten dagewesene Art und Weise diese beiden Alternativen gleichzeitig zu erzählen, mit einer furchtbaren, unterschwelligen Suggestionskraft, wie wir sie sonst tatsächlich fast nur aus dem Märchen kennen.


Aharon Appelfeld/Foto: Marianne Fleitmann

Trotzdem bleibt der Autor stets im Bereich des objektiv Möglichen. Das für unsere Begriffe „Normale“, „Wünschenswerte“, „Menschliche“, scheint in seiner Erzählung nur deswegen wunderbar, exotisch und märchenhaft, weil es zuvor von den Nationalsozialisten willkürlich zur Ausnahme erklärt worden ist: als ausdrücklich und unter Strafandrohung nicht anwendbar auf Juden. Nur der dichte, von Menschenhand – und Menschengeist – unberührte Wald, auch als Symbol des Unbewussten sowie als unveränderlicher reiner Kern alles Menschlichen, vermag das unschuldige Leben zu bewahren und zu erneuern, damit es schließlich gestärkt und mit neuer innerer Kraft und neuem Bewusstsein aus dem Schatten hervortritt, um sich den Herausforderungen seiner Existenz zu stellen: das ist der unterschwellige Konsens des Unerzählten in Appelfelds Geschichte wie im klassischen Märchen. Nur die von den beiden gegensätzlichen Jungen repräsentierte Dualität aus Intellekt und Lebenskraft kann das von den Nationalsozialisten geschaffene Chaos in der äußeren Welt beseitigen. (Nicht zufällig heißt der eine Junge Adam, wie der erste und einzige Mensch, und der andere Thomas, was sich vom aramäischen Wort „Te'oma“=Zwilling ableitet.) Es ist leicht Appelfelds scheinbar simple Erzählung zu unterschätzten. Als gelungene Variation seines Lebensthemas fügt sie sich wunderbar in sein Gesamtwerk ein.

„Ein Mädchen, nicht von dieser Welt“, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, erschienen bei Rowohlt Berlin, € 18,-